• Ich greife nur alle Schaltjahre mal zu einem Krimi, und dann sowas. Erst kürzlich hatte ich mir einen SF-Roman reingezogen von Isaac Asimov, derartige 50er-Jahre-Schmöker aus der schwarzrückigen Heyne-Serie habe ich mir früher seriell reingezogen, auch die gelben Goldmann-SF, der Roman war eine Zeitmaschinensache mit einer Turmgesellschaft von "Ewigen", die immer wieder Korrekturen am Geschichtsverlauf vornehmen, sich über unzeitgemäße Anzeigenwerbung in Hobbytechnikerzeitschriften Botschaften signalisieren, und durch minimale Eingriffe die Raumfahrt verhindern oder die Atombombe, einer verbandelt sich verbotenerweise mit einem Mädel aus dem 145. Jahrhundert, das im 241. versteckt wird, am Schluss aber selber wieder im Jahr 1954 irgendeiner Zeitmaschinen-Logik zum Durchbruch verhilft, na, egal. Da schürzte man auch dauernd die Lippen und zog die Stirn in Furchen, dass es eine Art hat. In dem gegenwärtigen Krimi, "Die Bildhauerin" von Minette Walters (Goldmann, München 1995), geht es eigentlich, ab und zu wird an der Unterlippe genagt oder der Daumennagel betrachtet, und die Übersetzerin Mechtild Sandberg-Ciletti hat bestimmt kein Spitzenhonorar erzielt. Aber wieso stoße ich auf S. 127 auf einen ehemaligen Polizeisergeanten, der jetzt ein Restaurant betreibt, wo nie Gäste sind, der zuvor auch schon mal ekelerregend nach Makrelen gestunken haben soll, und von der Ich-Erzählerin geschildert wird: Er verschränkte die Arme. Von der einen Hand baumelte ein Fischfilet herab. ("Gefilte fish mit farleygte hend", wie die Jiddischsprecher sagen würden?) S. 128 kommt es dann zu Folgendem: Er schwang das Fischfilet. "Ich mache grade Pfeffersteaks mit leicht gedünstetem Gemüse und Butterkartoffeln."

    Hä? wie kann ein Filet von der Hand baumeln, das naturgemäß weder Schwanz- noch Rückenflosse mehr zum Anpacken hat? Okay, auch dialogtechnisch ist das kein Geniestreich, ich kündige ja meine Menüs der liebenswerten Partnerin auch nicht an mit "schön, dass du kommst, ich mache grade leicht gedünstetes Gemüse", höchstens dass ich mal sage, wart mal einen Moment, muss noch das Gemüse dünsten... und wer kriegt jetzt das Fischfilet? Ist das so'n mediterranveganes Sondermenü, der eine Fisch, der andere Fleisch? Auf S. 129 ist angerichtet: Er legte die Steaks auf vorgewärmte Teller, umgab sie mit ganzen gebratenen Kartoffeln, gedünsteten Zuckererbsen und jungen Karotten und gab den Bratensaft aus der Pfanne dazu.  Vom Fisch keine Rede mehr! wo ist das Filet abgeblieben? Wenn ich früher sowas übersetzt habe, hab ich mir an solchen Stellen immer selber was gebrutzelt (wie ich auch alle die weniger leckeren Krankheiten in den von mir übersetzten Aids-Bekenntnisbüchern und "So besiegte ich die Rückenmarksdarre" und dergleichen bekam, man muss ja beim Übersetzen viel genauer in die Beschreibungen einer Sache hineinkriechen, als der Autor es nötig hat, da zieht man sich allerlei Beschwerden zu), aber was denn nun, Fisch oder Fleisch? "Ich hätte vielleicht bei einem Steak die Grenze gezogen", sagt der Sergeant auf die Frage der Ich-Erzählerin, ob er, wäre sie nicht aufgetaucht, alles allein verputzt hätte. Ein Steak hätte gereicht (vom Fisch ist immer noch nicht die Rede) - "I draw the line", steht vermutlich im Original, es gibt sicher schönere Redensart-Entsprechungen im Deutschen, bin zu faul zum Suchen; oder war der zweite Gang das Fischfilet, das der Restaurantkoch dann "baumelnd" von der Hand in die Pfanne "geschwungen" hat wie Verleihnix die Meeresfrüchte am Marktstand im kleinen gallischen Dorf? "fillet of fish", das wäre ein Fischfilet, aber googlelob konnte ich im Internet nachsehen, nach kurzer Suche fand ich die erste Stelle, wo was von der Hand baumelt, im Original steht - vom Kapitel "SIX" ist zumindest eine Seite abgebildet - He crossed his arms, a fish slice dangling from one hand, da hat die Übersetzerin sich gedacht: "eine Scheibe Fisch" kann's nicht sein, das wirkt bei verschränkten Armen seltsam, doch hätte sie besser einen Blick ins Lexikon riskiert: fish slice ist ein "Pfannenwender". Man kann nicht misstrauisch genug sein, ich will als Übersetzer doch wissen, was in dem Buch auf den Tisch kommt, schon weil ich mir das Steak respektive Fischfilet auch in die Pfanne hauen will nach getaner Arbeit.

    Sowas passiert (leider) immer wieder beim Lesen, ich werde schon wie mein seliger Großvater, pensionierter Gymnasiallehrer, der die Druckfehler in der Tageszeitung rot anzumerken pflegte, ob er die Exemplare in die Redaktion zurückschickte? Übrigens könnte, gäbe es diese von Isaac Asimov erdachte Gesellschaft der "Ewigen" und wäre das Ganze kein Roman, sondern gelebtes Leben, ein unzufriedener Leser aus dem 145. Jahrhundert mit einer Zeitmaschine ausgestattet, in die 1990er Jahre zurückreisen, dem Mann kurz vorher das Filet aus der Hand nehmen und gegen einen Bratenwender austauschen. Bzw. nach Asimov-Romanlogik mit irgendwelchen Öko-Manipulationen für einen Versorgungsengpaß bei Steaks sorgen, statt dessen ein Sonderangebot auf einem Fischmarktstand in England provozieren, dann stimmt die Geschichte wieder. - Na gut, ich höre schon Protestgeschrei: "oller Meckerfritze", "Bescheidwisser", "grammar Nazi"... Es ist ja auch kein nobelpreisverdächtiger Roman, "nur" ein Krimi. Ein Mitschüler von mir, Schachmeister in der Vororts-Liga Süd, hat übrigens mal in "Stiller" von Max Frisch einen Schachfehler entdeckt, er schrieb damals an Suhrkamp, und der Fehler wurde prompt korrigiert und das Lektorat schickte ihm ein vom Autor signiertes Exemplar zum Dank für den freundlichen Hinweis. - Adresse von Goldmann weiß ich nicht, ich lass es bei diesem Blogeintrag bewenden.


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  • klotzbuecherbrauerei"Ein klotziger Brocken bleibt das Buch dennoch, vielleicht auch ein Kotzbrocken" - mit diesen ermunternden Worten im Schlussabsatz einer Rezension in der Zeit vom 11. Dezember 2010 resümiert Friedhelm Rathjen Zettel's Traum. Diesen klugen, abwägenden Artikel möchte ich allen empfehlen, die sich im Kielwasser des hundertjährigen Geburtstags mit Schmidt beschäftigen. Eine freundliche und didaktisch strukturierte Einführung in den Gesamtkomplex und in einzelne Werke bietet auch Peer Schaefer auf seiner Webseite incl. Kommentarstellen zu Leviathan oder Die beste der Welten. Einen biographischen Abriss bietet Marius Fränzel auf seiner Musagetes-Webseite, dessen Lesehinweise-Blog zu Zettel's Traum über S. 1 noch nicht hinaus ist. Rathjen, Autor einer Chronik zu Leben und Werk (Bargfelder Bote, 3fach-Nummer), weiß zwischen Kritik und Bewunderung die Waage zu halten. Er resümiert, was Schmidt beschäftigte, als er das Werk niederschrieb, und hält es für den Abschluss seiner Ausflüge ins freudianische Analysierwesen. Der Dän in Zettel's Traum, den man unschwer mit Schmidt identifiziert (obwohl das wahrlich nicht immer naheliegt, William T. Kolderup aus der Schule der Atheisten ist beispielsweise Friedensrichter, aus begüterter Dänischer Familie und früher mal zur See gefahren) ist der letzte Ich-Erzähler, allerdings selbst auch nur ein Charakter aus den dramatis personae. Denn die entscheidende Klippe des Leser-Narrenschiffs ist: Früh-, Mittel- oder Spätwerk? wer das erste liebt, schätzt (oft) das letztere nicht - gut, es ist auch eine Geldfrage, und natürlich muss man für die ab Zettel's Traum geläufigen Riesentyposkripte Platz im Bücherschrank freiräumen. Und wer im Spätwerk zu Hause ist und sich auf die versponnene, grandios-einseitige "Etymtheorie" beruft, dem werden vielleicht die doch recht biederen, geradezu innere-Emigration-haften Juvenilia peinlich sein. Apropos: was könnte uns eigentlich sonst von der Lektüre Arno Schmidts abhalten? Hier zehn potentielle Bremsklötze zum Wegräumen:
    Arno-Schmidt-Lektüre: Hürden, die uns hindern würden...# 1 Satzzeichen: Ganz so schlimm ist es doch gar nicht, wenn man sich den Code mit z. B. <eckigen Klammern> und Doppel=Trenn=Strichen draufschafft. Wildwuchs an Ausrufe- und Fragezeichen, Beistrichen, Doppelpunkten ist gar nicht so schlimm, wenn man Comics lesen kann. Da ersetzt ja auch ein Ausrufe- oder Fragezeichen über dem Kopf die Denkblase, die den Erkenntnisweg erst nachzeichnet. Im Comic sind mit z. T. kombinierten Frage- und Ausrufezeichen - manchmal verdoppelt und verdreifacht - Gefühle wie Verwunderung, Verblüffung, Staunen suggeriert bzw. wiedergegeben. Die Reaktion des Lesers auf die Deixis eines isoliertes Zeichens wird bei AS vorab einkalkuliert. Auch als erzählerisches Element werden Satzzeichen benutzt, beispielsweise vorangestellte Kunstpausen-Doppelpunkte : ? Da werden Reden (oder Gesten, oder gar Mimik wie bei den heute allerorts benutzten Chatzeichen) abgekürzt. Einmal, ich weiß nicht mehr in welchem Roman, geht der Held aufs Klo und das Ausrufezeichengetümmel in der Parenthesengirlande lässt nicht grade auf flutschige Entleerung schließen. Eine ähnliche Überschrift „,;.–:!–:!!“  zierte ja auch die Spiegel-Titelstory von 1959 über den Schriftsteller (deren Druck auch das Ammenmärchen von der Unbekanntheit des Arno in der BRD-Literatur entkräftet) - die Zeile war ein Zitat; an der Stelle, von der es stammt, wurde der fragende Ich-Erzähler auf eine Lokalität hingewiesen, Komma und Semikolon deuten ein Zögern, vielleicht ein "äh" an, der erste Gedankenstrich vielleicht die Aussage oder den ausgestreckten Zeigefinger, dann folgt der Doppelpunkt  als eine Art deiktische Einleitung zu !, der schlechthinnig-emphatischen Exklamation, die man gar nicht mit einem Laut (z.B. "da") substituieren muss, um sie zu verstehen - und, weil die Erklärung noch präzisiert wird, folgt nochmal - Zeigefinger - Deixis - und jetzt zwei Ausrufezeichen, jetzt kapiert? unmissverständlich, da geht's lang, worauf im Text ein Ah, Danke schön... erwidert wird.
    # 2 Präpotentes Geniegehabe: Arno kennt, klar, niemanden, der so oft recht hätte wie Arno, und da das unbezweifelbar feststeht (ganz harter OKW-Stil: Wer etwas anderes behauptet, lügt!), lässt er's auch jeden wissen, der es nicht hören will. Andererseits begab er sich freiwillig selbst auf das schlüpfrige Feld der Freud-(wenn auch nur Text-)Analysen. Die Helden von Schwarze Spiegel, Brand's Haide und Faun wollen sogar retrospektiv alles besser gewusst haben, was Ihnen aber wenig half... Doch lässt sich AS nicht 1:1 kongruent mit den Ich-Erzählern austauschen (es sind eher Wunschprojektionen, die anteilmäßig auch bei Nebendarstellern zu finden sind), man darf ihn schon gar nicht mit dem Kultus ("Muhammad Arno Ali"', wie Andersch dichtete) der Fangemeinde verwechseln. Warum soll man sich provozieren lassen? Nicht er hat recht, ich habe recht, u.a. an Sonn- und Werktagen.

    Joseph M. von Babo: Arno. Ein militärisches Drama in zween Aufzügen (1776), aufgeführt in Mannheim, München und Wien: Als der Vorhang aufgeht, schaut der Held auf sein "Degengehänge"... was hätte die Etymtheorie daraus gemacht? "Babo" ist übrigens Jugendwort des Jahres 2013, heißt soviel wie Chef!
    Arno-Schmidt-Lektüre: Hürden, die uns hindern würden...
     # 3 Patriarchalischer Besserwisser: Ich war lange mit mir einig, dass Schmidt, wie ich ihn zu kennen glaubte, eine Art Vaterersatz ist (keiner, nach dem sich Waisenknaben wie ich geradezu sehnen).  Diese seltsam persönliche Verstrickung vieler Schmidt-Fans mit dem Objekt ihrer Bewunderung wäre wiederum eine eigene Psychoanalyse wert. Jedenfalls verkörperte er viele Eigenschaften, die im väterlichen Image der 1950er angelegt waren: Kriegserfahren, physisch stark, praktisch begabt, kennt die Natur wie ein Waldläufer, politisch ein Durchblicker, allerdings keine Ahnung von den "Beatles" oder den Segnungen der sog. Hippie-Gegenkultur, der er (stets einen Lesetipp bei der Hand) Döblin empfahl statt Hesse, intelligent und gebildet, SPD, aber linkslastig, immer auf der Seite der Schwächeren, natürlich gab es weit und breit keinen solchen Vater! Der Hader über die Enttäuschungen, die Schmidt später mit eher rabiat konservativen Thesen bereitete, dazu das immer weniger publikumsfreundliche Spätwerk, war der Rücksturz zur Erde nach dem Höhenflug kultisch übertriebener Selbstadoption. Wie man seinen Vater ödipal abmurkst, polemisierten von da an viele gegen den ollen Haide-Klotzkopf.
    # 4 Fehlurteile: Balzac, Balzac: kein Dichter; kein Verhältnis zur Natur (das wichtigste Kriterium!). Nur alle 20 Seiten einmal etwas wirklich Gutes, eine präzise Formulierung, ein suggestives Bild, eine Initialzündung der Fantasie. Wie lächerlich z. B. seine ewigen, 2 unbeholfene Druckseiten langen, Beschreibungen von den Boudoirs der Haute Volée! : vermag einer die Scherben solch unsinnigen Puzzle-Spiels zusammenzusetzen? Und so oft Gestalten, Motive, Situationen wiederholt, wie nur je ein Vielschreiber. Männer gelingen ihm nie; nur Incroyables, Geizhälse, Journalisten, giftmischende Portiers [...]. Seine Frauen: Kurtisanen oder Mauerblümchen. Psychologie?? : o mei!! : den einzigen 'Anton Reiser' geb ich nicht für Balzac und Zola zusammen! Wohlgemerkt, der so urteilt, heißt Heinrich Düring (der Faun in Aus dem Leben eines Fauns), der ihn so urteilen heißt, heißt Schmidt, allerdings. In einem ständig zwischen Essay, Erzählung und Lyrismen changierenden Werk stehen natürlich auch mal Klöpse dieser Art. Lustigerweise könnte das Fazit auf den Autor zurückweisen: seine Frauen? Kurtisanen oder Mauerblümchen; überzeugend gestaltete er Incroyables & Geizhälse; Psychologie: o mei!

    Arno-Schmidt-Lektüre: Hürden, die uns hindern würden...

    # 5 Wiederholungen: Dabei will ich ja gar nicht Balzac verteidigen müssen, wo ich selbst spät erst entdeckte, wie die Scherben solch unsinnigen Puzzle-Spiels, um es zu genießen, zusammengesetzt sein müssen. Sagen wir's ganz platt, Balzac führt aus meinetwegen sonderbaren Einzelschicksalen nach und nach das komplexe Soziotop des Seconde Empire herauf, ein untereinander vielfältig vernetzter Personenreigen. Ein einzelner Roman mag (je nach Übersetzung) nicht reichen, man muss da durch, das Ganze vornehmen, wo der Mikrokosmos jedes AS-Romans den ganzen Schmidt, im Grunde auch den späten Schmidt schon enthält. Es ist mit selbstähnlichem Personal die immergleiche story, die fort und fort gesponnen wird. Ein meinungsstarkes Wunderkind, ständig an der Doofheit der Mitmenschen verzweifelnd, wird erst innerer Widerständler, der doch angepasst-trotzig seinen Job macht, an Feierabenden Wieland liest, Fouqués Biographie oder das Königreich Hannover erforscht; als geschundener Kriegsteilnehmer und Ostflüchtling, der alles verloren hat, in bitterster Armut eine freiberufliche Einöd-Existenz errichtet, die Bretter zu seiner Hütte mit einem proletarischen Freund zersägt, das dumpfe Bauernvolk hasst, ab und zu Besuch bekommt von biederen Ehepaaren mit Teenie-Töchtern (halbwüchsigen Kurtisanen oder Mauerblümchen); und dann wird auf langen Spaziergängen durch die Haide über unbekannte Autoren und die Etyms bei Poe & Co. geredet, geredet, geredet...
    # 6 Etymtheorie: Irgendwann über der Lektüre von Karl May muss Arno die "präembryonale Tantenliebe" (R. Neumann) aufgegangen sein. Und dass seit Freud ("das feste Ja muss als ein dringendes Nein gedeutet werden") von allem das Gegenteil stimmt. Jedes Wort birgt einen Sex-Kalauer (Etym). Nicht, dass sich der Autor je einer Psychoanalyse unterzogen hätte, wie's jeder redliche Seelenklempner tun muss, nein, er dilettierte munter drauflos und entdeckte so in Sitara und der Weg dorthin, was es mit Winnetous "küßlichem Haar" und mit waldigen Doppelhügelkuppen auf sich hat, zwischen denen tief im Tal Wasserlöcher sind. Und: Von Sam Hawkins bis Halef Omar Peniden, alles Peniden! Eine ubw-Methode, die nur Carroll, Joyce - und Arno Schmidt bewußt anwandten.

    Arno-Schmidt-Lektüre: Hürden, die uns hindern würden...

    # 7 Sexismus: Na schön, man hätte gern statt einer Zeitmaschine ein Zeit-Megaphon, mit dem der junge Schmidt dem alten Schmidt zurufen könnte, dass es auch noch andere Assoziationen gibt als solche, die mit Arsch, Poe & Titt'n zu tun haben. Aber mal ehrlich, es schärft die Beobachtungsgabe ungemein, obwohl man den Zweck der Übung nicht recht erkennt. Was interessiert es den Leser, ob May schwul und Poe koprophil gewesen sei. Hat nicht Schmidt für sich verlangt, man soll mit dem Werk vorlieb nehmen und den schäbigen Rest des zermürbten Stachanowpoeten gar nicht ignorieren? bzw. in Ruhe lassen? Gut, in den 50er Jahren galt ein strenges Jugendschutzgesetz, heute wird Dirk Kurbjeweits Novelle Zweier ohne als schulische Prüfungslektüre von kleri- bzw. evangelikalen Schwaben bekämpft. Damals war das mit Katz und Maus nicht anders, und es war sicher ein Heidenspaß, wenn Robert Neumann denselben prüden Sittenwächtern, die Seelandschaft mit Pocahontas verbieten wollten, Karl May als jugendgefährdend anzuzeigen versuchte. Dass Schmidt knapp an einer Gotteslästerungs- und Pornographieverurteilung vorbeigeschrammt ist, macht den Tick erklärlich. Ansonsten hat er recht anmutige Geschlechtsverkehre geschildert, wobei Frauen stets auf Augenhöhe beteiligt sind, außer beim schmatzenden Französisch mit einer, äh, Zentaurin in der Gelehrtenrepublik...
    # 8 Atheismus: Das wuchtige Pamphlet Atheist? Allerdings! wurde vor Jahren bei Haffmanns als Flugblatt gedruckt, und zwar weiß auf schwarz in rotem Rand und mit hässlichster Fraktur. Wollte man andeuten, wes Geistes Kind dieser rabiate, sich andauernd erklären müssende Gottesleugner ist? Dem manifest theoretisierenden Atheismus wohnt der Widerspruch inne, dass er mit Schaum vor dem Mund gegen etwas predigt, was ohnehin nicht existiert. Atheisten erlebe ich als fromm und gläubig, während mich Zynismus der Pfaffen aller Religionen mehr ankotzt als 'Gott' & Schöpfung.
    # 9 Politik: Was mich zu dem Schluss bringt, weshalb ich diesen Blogtext angefangen habe. Schmidt als Bildungsstreber, 100-Prozentler, Antimodernist, Gewerkschaftsfeind, Misanthrop, unerträglicher Geili und Wortwitzler, hindert mich all das, seine Bücher gut zu finden? Nein. Man will gar nicht ständig einer Meinung sein, schon gar nicht mit dem, was man liest, das wäre fad!
    # 10 Humorlos: Als Arno Schmidt starb, notierte Elias Canetti: "aus Trotz", und Hans Magnus Enzensberger dichtete den Schüttelreim:
    Der Welt hat er auf Schritt und Tritt geschmollt
    und mürrisch hat sich Arno Schmidt getrollt.
    Es gibt ja sogar ein Suhrkamp-Insel-Buch Arno Schmidt für Boshafte, wie ich kürzlich festgestellt habe, wobei man fragen darf, brauchen wir das und wozu eigentlich die den? Das ist wohl der Grund, weshalb die Arno-Schmidt-Stiftung in den letzten Jahren immer öfter auf den komischen, humorigen, spaßigen Schmidt pocht. Selbst Reemtsma behauptete in einer arte-Sendung, welch ein "sehr freundlicher, zugewandter und höflicher Mensch" Schmidt gewesen sei, wo er selber noch 1986 bekannte, er sei nicht der Typ gewesen, mit man gern in Urlaub führe, und es gebe "einfachere Lebenswege in der Welt als den, die Frau Arno Schmidts zu sein" (Wu Hi? Arno Schmidt in Görlitz Lauban Greiffenberg, S. 237). Danke nein, ich brauch keinen Spaßgenerator im Bücherschrank, ich lache lieber über die Stiftung, denn Reemtsma ist von allen Schmidt-Mäzenen der am ärgsten Gelackmeierte. Das Geld (350.000 DM) gab er als Vorschuss hin für den Roman Lilienthal, von dem Schmidt ihm einredete, der solle sein Hauptwerk werden! (also doller noch als Zettel's Traum), daraus wurde nichts, am Ende blieb nach seinem Tod nur Julia, oder über die Gemälde - nett, aber nur ein Fragment. Auch den zusammengekehrten, jahrzehntealten Lilienthal-Schurrmurr mussten die Stiftungsknechte zu einem Buch zusammenleimen, und wer darin blättert, weiß Bescheid. Schmidt wird sich ins Fäustchen gelacht haben über den money man und hätte ihn früher oder später abserviert wie seine Förderer Michels, Schlotter & Co. Andererseits, wo sollte die Witwe hin mit dem Haus und den Büchern, direkte Erben gab's keine und wer wissen will, wie Arno Schmidts Neffe in USA aussieht und was er so treibt im Leben, hier klicken (Ken heißt er)! Das hat Jan Philipp Reemtsma jetzt davon, ätsch, jetzt ist er Arno Schmidts Frau, es gibt einfachere Lebenswege in der Welt! Seine Stiftung hockt seit Jahren auf all den Rechten, ob man bis 2049, wenn AS gemeinfrei wird, die 350.000 wieder einspielt? Ich fürchte, das war kein lukrativer Deal. Denn der Bildungshintergrund, den man doch mitbringen müsste zur Lektüre, wird immer fadenscheiniger; Suhrkamp ist insolvent, von S. Fischer, der einen interessanteren Klassiker-Kontext hatte, trennte man sich im Streit (in der sog. Suhrkamp-Kultur geht Schmidt neben Hesse, Brecht, Weiss & Co. unter, in Gesellschaft von Freud, Kafka, Döblin, Thomas Mann, selbst Christof Ransmayer und Florian Illies sähe er auf jeden Fall besser aus). Autorenkorrespondenz mit Andersch u.a. liegt längst vor, Familienbriefe, seit Jahren angekündigt, scheinen undruckbar zu sein, vermutlich zu banal; allenfalls von dem Wollschläger-Briefwechsel sind noch neue Aufschlüsse zu erwarten. Wollschläger war auch so ein armes Schwein, nach jahrzehntelanger Verehrung hat er als "Statthalter der deutschen Sprache seit dem Tod Arno Schmidts" (wörtlich so!) kein nennenswertes eigenes Werk hervorgebracht. Die Tagebücher der Witwe sind amüsant, ergeben aber keinen Cosima-Effekt, man liest sie nicht um ihrer selbst willen. Ein Steppenwolf oder ein Siddharta wie bei Hermann Hesse, der sich seit 100 Jahren immer neu als Kultautor vermarkten lässt (ob das je bei AS so wird?), springen aus diesem Nachlass beim besten Willen nicht mehr raus. Und um Gelehrtenrepublik oder Schule der Atheisten als Fantasy verfilmen oder als Comic zeichnen zu lassen, dafür fehlt der Fa. Schmidts Erben der Humor. Dass Schmidt selber das Lachen oft verbeißen musste, ist späten Fotos anmerken, z. B. dem, wo er Belege von Zettel's Traum kriegt und mit seiner Frühstücksmilch winkt (aber das täuscht, nach Erinnerungen der Haushälterin soll er anschließend Gläser randvoll mit Racke Rauchzart rumgereicht haben). Kurz, der war gar nicht so. Er beißt nicht, will nur spielen; glaubt mir, das Grantlertum bei Kraus, Bernhard oder Achternbusch ist auf Dauer viel, viel nervtötender.


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  • Der Allgemeine Deutsche Autorenclub ADAC hat zugegeben, dass die Umfragen zum "gelben Schutzumschlag" des Jahres gefälscht waren. Der Chefredakteur der Zeitschrift "Autorsport" hat bereits seinen Rücktritt erklärt, nachdem herausgekommen war, dass die Teilnehmerzahl bei der Umfrage bedeutend von seinen Angaben abgewichen war: Keine bombastischen "35.000" Leser hatten für Daniel Kehlmann als beliebtesten Autor Deutschlands gestimmt, sondern grade mal 3.500. Dabei war die Berechnungsgrundlage längst gelegt, man Arno_Schmidt_Buechertischmuss nur Arno Schmidt nachschlagen: Bei der Gesamtzahl der deutschsprachigen Nicht-Analphabeten kann man nur die dritte Wurzel aus P ziehen, um die "Kulturträger" zu ermitteln, die sich mit viel Mühe, Ausdauer und Kosten in Dichtung vertiefen (und einen pannenfreien Lieblingsautor haben), bei 60 Millionen "wären es 390 etwa, 390, mehr sind es nicht", so Arno Schmidt, Ehrenmitglied (ungelogen!) im ADAC-Motorsportclub Uckermark-Prenzlau e.V. Und selbst diese 390 "sind schon Amateure, wenn Sie jetzt die eigentlichen Kulturerzeuger von mir wissen wollen, dann müssen Sie daraus noch mal die dritte Wurzel ziehen, das sind dann sieben bis acht, höchstens." Aber unter diesen 7 bis 8 den Lieblingsautor der Deutschen zu küren, muss ich nur the one and only kennen - meinen eigenen!

    "Auch ein unsichtbares Motorrad sprudelte auf und zog dann die kleiner werdenden Schallperlen hinter sich her", Alter DDR-Wechselscheindieser Satz aus dem Taschenbuch Sommermeteor, bzw. der mich noch heut nicht kalt lassenden short story Nachbarin, Tod und Solidus hat mich, das muss 1971 oder 72 gewesen sein, ergriffen, ich arbeitete damals in einem Seifenlager von 7.00 morgens an, wenn es noch dunkel war, und kam aus dem Werk heraus, gegen halb fünf, wenn es gerade wieder dunkel wurde. Das Seifenlager war das Kellergeschoss einer Kurzwarenfabrik, die angesichts wachsender Konkurrenz immer weniger produzierte und deren Besitzer in weiser Voraussicht in den Speditionshandel eingestiegen war. Von hier wurden die Waschmittel, Niveadosen und Kosmetika an die Drogerien (gab es damals noch) der Stadt ausgeliefert. Nach einer Liste zählte ich die schönstduftenden jugendstil-dekorierten Roger & Gallet-Spezereien ab, ich liebte diese Schmuckschachteln so sehr, dass ich mir am liebsten welche mitgenommen hätte, stapelte sie in schnöden Pappkartons, die in vergitterte Rollcontainer kamen ("Container" sagte damals noch keiner, das rechte Wort weiß ich nicht mehr!) und wenn alles fertig war, schob man die parfümierten Käfige zum wartenden LKW auf den Hof. Der Fahrer half nicht dabei, der qualmte sich unterdessen eins, vielmehr half man ihm beim Entladen, wenn neue Ware kam. Den obengenannten Satz aber las ich während der Mittagspause in einer Werkswohnung auf der Toilette, die ich netterweise benutzen durfte (der Sohn des Personalchefs hatte mir diesen Job verschafft). Drei TramperDer eigentliche Hausherr war nicht da und ich lieh mir das Buch, nachdem ich jenen mich geradezu umwerfenden Satz gelesen hatte - nie hatte jemand in meiner Umgebung meine (Miß-)Wahrnehmung der Welt so plastisch ausgedrückt - , bis auf weiteres aus. Die Arbeit war hektisch, ab ca. 14.00 ließ das nach, dann war Zeit totzuschlagen. Ich konnte mich also hinter die Seifenkistenregale verziehen und lesen!, und mein Vorarbeiter, dem ich eigentlich nur beigesellt worden war, weil er eine Kriegsverletzung am Bein hatte, pflegte zu sagen, "wenn jemand kütt", wisse ich Bescheid (auf deutsch hieß das, ich solle mich beim Auftauchen anderer Werksangehöriger  darauf besinnen, dass der Boden auch mal wieder gekehrt werden müsse, was ich dann, das Buch rasch hinter den Warenkisten verstauend, übereifrig tat, um anschließend die Lektüre wieder aufzunehmen). Meine Existenz hing sowieso nicht davon ab, das war nur ein Ferienjob, sonst besuchte ich die Obersekunda, wohnte noch (aber nur mehr für ein Jahr) im Elternhaus, das ich mit Kindergeld und Waisenrente munitioniert mit 17 zu meinem Segen verließ. Das Geld wurde übrigens noch in Lohntüten ausgegeben, obwohl ich sogar - wegen Gründung eines Science-Fiction-Clubs - mit 12 bereits ein Girokonto hatte.

    Natürlich gab es auch andere Hammersätze in dem Buch (eigentlich waren diese Sachen vorher in Zeitungsfeuilletons und dann 1966 in Trommler beim Zaren veröffentlicht worden), "wie das Klavier unter Emmelines Pfötchen nervös brüsselte, dicke Blasen stiegen auf; im Baß blubbte es manchmal suppen", las ich in der Titelgeschichte Sommermeteor, einer der schönen Stürenburg-Erzählungen, die großenteils aus Tieck-Novellen und anderen Quellen des 19. Jhds. transformiert wurden; oder diese Erkenntnis: "Im Allgemeinen bin ich am liebsten allein", nichts konnte mir mehr entsprechen in meiner pubertären Schwerstkrise (die eigentlich seitdem anhält), oder der letzte Absatz einer Prosaarbeit Was soll ich tun?, die zwischen Essai und Kurzgeschichte schwankt: "Schlafbücher müßte es geben; von zähflüssigstem Stil, mit schwer zu kauenden Worten, fingerlangen, die sich am Ende in unverständliches Silbengekringel aufdrieseln; Konsonantennarreteien (oder höchstens mal ein dunkler Vokal auf <u>): Bücher gegen Gedanken. Was soll ich bloß tun?!" Ich wußte, was zu tun war, und las dann auch bald Romane, in denen die einzelnen Absätze snapshots eines Fotoalbums waren und von kursiven Einstiegs-Schlagzeilen eingeleitet werden. Ich las die alten Spiegel-Artikel und die Pardonheftchen meiner Brüder, in denen sich Essays oder Polemiken oder Rezensionen von Arno Schmidt fanden. Ich las das frühe Oeuvre mehrmals, alle paar Jahre fing ich wieder von vorn an, denn man konnte ja unmöglich alles auf einmal aufnehmen, immer wieder fanden sich neue übersehene Details. Ich las mehrspaltige Romane mit unterschiedlichen Handlungssträngen, eingeklebten Bildchen oder Rundfunkdialoge, im Verhau der Satzzeichen ! - !! - !!! die mathematischen Formeln und obskuren Theorien, das Dickicht der verrücktesten Fremdwörter, Langzitate aus entlegensten Schwarten,  - da stimmte einfach alles, selbst die merkwürdige Orthographie, die nur von einem stammen konnte, der Comics gekannt oder den Computercode vorweggeahnt hat - und ihr könnt mich totschlagen, ich verstand auch das meiste mit meinen Siebzehn!

    Ich bin dann kein allzufanatischer "Fan" geworden, habe nie den Bargfelder Boten abonniert und wollte mich auch gar nicht "Jünger" nennen. Es gab ja auch andere Götzen: Lyriker, U-Comix, Surrealismus, Herr der Ringe, Liedermacher, Sri Aurobindo, Landkommunen, die Frankfurter Schule, ZEN, der ganze Popmusikkram, das habe ich alles wohl aufgenommen, allein von den deutschsprachigen Autoren, deren Gesamtwerk mir einigermaßen vertraut ist, wären einige zu nennen. Aber Arno Schmidt, mit dem habe ich durch Vorlesen, Aufdrängen, Empfehlen und Immerwiederdraufzurückkommen - seufz, stand in der Denkblase meiner Schulkameraden, die schon meine Ausgabe von Becketts Warten auf Godot unter der Bank lesen mussten - alle möglichen Leute behelligt und dabei einige Schmidt-Leser und, manchen wird's wundern, gerade Leserinnen gewonnen Seite aus dem Tagebuch 1973und begeistern können (eine hat sich mal zum Abholen eines der von mir zugesandten Spät(groß)werke von der Poststation eigens ein schickes Kleid angezogen, wie zur Verlobung, nicht mit mir, ich war nur das Schadchen oder der Schlattenschammes, sondern mit dem Solipsisten mit dem freudianischen Etym-Tick!). Natürlich unternahm ich den obligatorischen Ausflug ins Mekka der Lüneburger Heide, nach Bargfeld, als der Mann schon nicht mehr lebte, und habe ganz köstliche olle Heidekartoffeln mitgebracht, welche sich die Bäurin fast schämte zu verkaufen, die waren die leckersten meines Lebens und schmeckten mir und meiner Liebsten wie dem König im Märchen, der sie mit Eidottern vergleicht! - Deckel Literaturquartett mit Arno SchmidtSelbst Ernst Krawehl, mit dem ich an seinem eigenen S. Fischer-Schmidtspezialstand der Frankfurter Buchmesse mal gesprochen hatte, gab ich mich nicht als Eingefleischten zu erkennen, sondern tat so, als hätte ich keine Ahnung. Inzwischen selber in einem Buchverlag tätig, fragte ich ihn, ob er Schmidts Prosa redigiert habe, da sah er mich strafend an und entgegnete so etwas wie: "Einen Arno Schmidt redigiert man nicht, da wird vielleicht alle 100 Seiten mal auf ein fehlendes Komma aufmerksam gemacht" etc. - Ich las natürlich alles im Taschenbuchformat. Mein Gott, 1972, 1973 gab es noch alles in Erstausgaben zu kaufen (ich erwarb Abend mit Goldrand zu Lebzeiten des Autors in einer signierten Subskriptions-Ausgabe, die ich allerdings in einer Pleitephase verkaufte und gegen eine nichtsignierte eintauschte), die dann später so maßlos im Antiquariatspreis emporschnellten, dass der Hype bald zusammenbrach wie die Amsterdamer Tulpenhysterie von 1634. Natürlich folgte ich auch Leseempfehlungen des Meisters, wenn auch nicht in alle Winkel (kein Karl May, Frenssen, Wilkie Collins, und nur in homöopatischen Dosen Schefer, Verne, Herder oder Bulwer-Lytton) und las bis in die 80er Jahre so ziemlich alles von ihm selbst, dessen ich habhaft werden konnte. Aber ab wann nahm der Schmidt-Stil Einfluss auf mein eigenes Geschreibsel? Denn dass sich der Autor dieses Artikels von 1979 ganz schön an Arno Schmidt heranwanzt, war doch wohl unverkennbar.

    Es muss zwischen Lebensjahr No. 15 und 17 gewesen sein, dass ich meine Arno-Schmidt-Initiation (Inkubation, Infektion, Injektion) erhielt, meine Tagebücher vorher sind eher umschmidtsch, z.b. hier vom 15. August 1970, da war ich vierzehn:

    Dritter Tag, nachmittags. Ich befinde mich in den Dünen Zandvoorts. Die hügelige Landschaft, die aus Sand, Erde und großen Grasnarben besteht, übt einen seltsamen Einfluß auf mich aus. Ich habe manchmal das Gefühl, als wäre es besser, wenn es keine Städte gäbe und nur wenige Menschen. Es ist merkwürdig, sich vorzustellen, man wäre allein an den Dünen, allein mit der Sonne, den Wolken, der Musik des Windes und des Meeres, ohne Minen, die das Betreten von manchen Landstrichen lebensgefährlich machen, Stacheldrahtzäunen, die das Betreten verhindern, ohne Abfall, der herumliegt, ohne die Geräusche der Flugzeuge und Motorräder und ohne eine Stadt, die hinter der Hügelkuppe auftaucht. Manchmal habe ich das Bedürfnis, kilometerweit, ja, Hunderte von Kilometern zu wandern, ohne ein Zeichen von Zivilisation zu sehen außer ein oder zwei Bauernhöfe, die sich freuen nach langem wieder ein menschliches Wesen zu sehen und ihm Nachtlager zu gewähren. Schade, daß so etwas nicht mehr möglich ist

    ...und hier ein Beitrag vom 19. März 1973:

    Ich liege wach und erwarte den Schlaf. Um nur die Wartezeit zu verkürzen, tue ich so dies und das. – Ich denke nach, stehe am Fenster und  rieche die kühle Nachtluft, schreibe im Schein der Petroleumfunzel ein paar Zeilen. In Wirklichkeit weiß ich aber, dass der Schlaf  sich um so mehr Zeit läßt, je mehr ich mir die Wartezeit vertreibe. Er fürchtet sich vielleicht vor Büchern, Fenstern, Gedanken und Petroleumfunzeln (wie überhaupt vor Lampen). Weiß ich?
    Ich habe in letzter Zeit viel geschrieben. Leider muß ich wohl den Füller mit grün und violett verloren haben, das wird euch vom Lesen abhalten. Ich habe in der Tat die letzte Woche über mehr geschrieben als den ganzen Monat davor. Zumal habe ich Angst, es könnte Unüberlegtes und zu Spontanes dabei sein. WARUM GERADE AUSTRALIEN erkenne  ich voll an, auch die Notizen unter den Datumsangaben - sie sollen ja gerade spontan sein. Aber VERSUCHE, TO A LADY, I WISH und das andere Gedicht –  ich weiß nicht recht. Ich bin mir nicht sicher. Ist das die Oberfläche der Sonne? Sind dies Strahlen, staubige Flecken? Vielleicht sind es Sonnenflecken. – Vieles ist auch zu verstehen, weil ich krank bin.
    Leise Geräusche der Nacht sind zu vernehmen, ich meinen Ohren summt das Blut seine ewige Melodie, die am Tage ungehört verhallt. Werde ich heilen?

    Im Herbst 1973, nach einer Bootstour mit Freunden, bei der wir beinahe von einem sog. "Euro-Container" überfahren worden wären, notierte ich dann dies:

    Stromabwärts. Eine Segeletappe Nachts - Fockleine war fest gestellt, und der Nachtwind blähte das geisterhafte Segel nur schwach - durch den schwarzen Strom gleitend unter tausend unbekannten Sternen. Dieselbe Nacht eine Nacht der tierischen prähistorischen Angst, des dumpfpochenden Urtriebs; als der Saurier mich zu töten versuchte, wäre ich nicht unbald über der Wupper gewesen. Die Rückkehr in Regen und Wolken, auf dem schnellen Rhein 1 Tag 60-70 km (gerudert) , aber auch jeder einzelne Stofflappen war naß. Die alte Hexe, die uns im Audi 80 nach *** fuhr, war wohl zum ersten Mal überrumpelt worden (ihre Kristallkugel war beim Polieren in der Werkstatt).

    Und zum Schluß noch vom 6. August 1978 ein Eintrag in mein "Lesetagebuch", das ich mir als frischgebackener Student vorgenommen hatte zu führen und auch ein paar Bände lang durchhielt:

    Schmidt, Arno Berechnungen I

    Habe mir den 2001-Nachdruck der Anderschzeitung TEXTE UND ZEICHEN ausn 50igern besorgt, und was tu' ich? Drin rumschmökern (anstatt den J[ean] P[aul] fertigzukriegen, Tristan anzufangen oder Fontane zu vertiefen) – Heyhey, mein lieber, schnakisch schnakisch was Er da schreibt, gehört mit bei Weitem zum nützlichsten + besten was mir von dem Herrn geläufig ißt (und mir ist (beinah) Alles geläufig!) – Er hat  da ne interessante Formanalyse des eigenen Werkes gemacht: Entscheidend ist Bewegungskurve + Tempo der Handelnden im Raum, d.h. Bei Umsiedlern hektisch-eisenbahnig, bei Pocahontas einkreisend-umzüngelnd, soso. Das kann ich evtl. guten Zwecken dienstbar machen: DAS müßte ich doch auch können? M. Wissens hat das noch keiner so gesehen (= genial, genial!). Wie hat er das denn dann zum Dialogroman weiterentwickelt? Da ist er sich doch spätestens im Goldrand (auch schon Z[ettels] T[raum], der Scheuß*) untreu geworden, denn soviel langsätzige literarische Reflexion in so enger Handlung wie z.B. Abfahrt von Franziska oder Walburgißnacht, dazu iss doch gar kein Platz? Da beschreibt er doch immer noch umständelnd weiter? = Aber vielleicht ist das die Lynkeus-Position, er sitzt im Bargfelder Leuchtturm und nimmt selbst das Getümmel seiner Personnage nur noch zähflüssig-greiselnd wahr!! Aber für's überschaubare bis Caliban [auf Setebos, eine Erzählung] herphoragent und ich will sehn, ob ich damit nich'n bißchen experimentiere. Es ist so klar und einsichtig-dödlig wie irgendn Rätsel, wenn man die Lösung kennt. Der Meister verrät seinen Zauberspruch, dz! Nur gut, daß es das in Taschenbuchform noch nicht gibt.

     *kein Verschreiber für "Scheiß", das soll "Joyce" heißen, nach dem Wortspiel "Schäms Scheuß".

    Lieferschein zu Zettels Traum


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  • Falls irgendwem unter den Lesern meine letzten parodistisch gereimten Titelmetaphern auf den vielgerühmten Zeiger gegangen sind, ein bildliches Wort wird doch mal gestattet sein! Ich hätte ja nicht "GroKo" zum Wort des Jahres gewählt, schon gar nicht mit der Begründung, man könne bei etwas härterer Anlaut-Aussprache auch "Krokodil" daraus lesen. Dessen uneigentliche Tränenströme werden schon noch fließen, falls sich die vom Grokabinett berauschten Wähler herbeilassen, einmal die Ministerliste mit dem Grokoalitionsvertrag zu vergleichen. Das wird ein eitel Grokodilsheulen und -zähneklappern, wenn die vermeintlich antischröderischen SPD-Ministranten und -innen bei den schwärzesten Messen dienen bzw. CDU-Politik vertreten, durchsetzen und verantworten müssen.Ritterrüstung auf der Meersburg

    Unter den Krokoastrologen wird indessen die Metapheritis grassieren, wie seinerzeit im Calton Creek. Ich werde jedesmal eine Auswahl zu Garben binden: Grokobana, die Kunst des Stilblütensteckens. Der erste ist schon mal Berthold Kohler, mein Lieblings-Metapherndrechsler aus der F.A.Z., der Mann, der auf dem Meiler vor der Kohlerhütte Stroh zu Gold spinnen kann. Man kann Ratespiele veranstalten, wieviele Metaphern in seinem Kommentar Platz haben. Z.B. in "Die Alchemisten" aus der heutigen  F.A.Z.-Titelseite vom 16.12.2013 (alles wörtliche Zitate, nichts erfunden):
    "Chapeau, SPD!"
    "...das zweitschlechteste Wahlergebnis ihrer Nachkriegsgeschichte eingefahren..."
    "...hielt sich brav an die Regieanweisungen der SPD..."
    "Der Schachzug... erwies sich als goldrichtig."
    "Mit der unwilligen 'Basis' im Rücken setzte... weit mehr durch als nur die dürren Hoffnungen..."
    "Gabriel hing das Damoklesschwert der Mitgliederbefragung aber nicht nur über der großen Koalition auf, sondern auch über der eigenen Partei."
    "Ein Nein zum Koalitionsvertrag hätte die SPD enthauptet und für Jahre... gebrandmarkt."
    "Ein neuer Höhepunkt der innerparteilichen Demokratie? Ja, der sanft gelenkten..."
    "...grenzt an politische Alchemie..."
    "...demoralisierte Partei wiederaufgerichtet..."
    "...Held der Stunde..."
    "...einschlägig beleumundeten Ressorts..."
    "...mit dem Einfahren derselben tut sie (CSU) sich schwerer."
    "Beim Versuch, Silber in Gold zu verwandeln, kommt bei ihr mitunter Blei heraus.Messinggefäß bei der Droste"
    "Für das Linsengericht der Maut hat sie... alte Überzeugungen... geopfert."
    "Friedrich bleibt... wenigstens das Austragshäusl des Landwirtschaftsministeriums..."
    "...die Partei im neuen Kabinett an Gewicht verloren..."
    "(Merkel) überließ den Alchemisten...die Bühne..."
    "Sie geht es mit der Gelassenheit einer Schwarzen Witwe an, die weiß, wie die Sache endet, sosehr der Bräutigam auch zappelt."
    "Zu ihrem ersten Ritter schlug sie wieder Wolfgang Schäuble, der jederzeit das Schwert zücken kann, wenn die freigebige SPD...zu tief in die Schatztruhe greifen will..."
    "...den Gabriel-Festspielen die Schau stehlen..."
    "...den Verlust ihres Kanzleramtsministers etwas übertünchen..."
    "Das Wehrressort ist das Himmelfahrtskommando..., im doppelten Sinn des Wortes."
    "Man kann sich dort in die Luft sprengen, aber auch für Höheres empfehlen."
    "....Einzug in den Bendlerblock..."
    "Den großen, bleiernen Stillstand?"
    "...der Republik ihren Stempel aufdrücken; damit ist natürlich nicht die Maut gemeint."
    "Es wäre wirklich ein Treppenwitz der Geschichte gewesen, wenn die SPD-Mitglieder dazu nein gesagt hätten."

    Kein Treppenwitz: die unwillige "Basis" im Rücken würde, statt sanft gelenkt und wiederaufgerichtet zu werden, beim großen, bleiernen Stillstand enthauptet, gebrandmarkt, vom Damoklesschwert geopfert, während der zappelnde Bräutigam, dessen Schwarze Witwe natürlich nicht nur mit dem Linsengericht der Republik ihren Stempel aufdrückt, als Held der Stunde nicht etwa Blei aus Silber, sondern Gold aus dem zweitschlechtesten Wahlergebnis macht, das er eingefahren hat, und nun tief in die Schatztruhe greift, bevor der Erste Ritter sein Schwert zückt, während sich das Himmelfahrtskommando im Bendlerblock in die Luft sprengt, um den Verlust der dürren Hoffnungen zu übertünchen und den sich schwer tuenden Alchemisten bei den Gabriel-Festspielen auf der Bühne oder wenigstens im Austragshäusl die Schau zu stehlen.


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  • Wer hat Angst vor dem (Jean Paul Friedrich) Richter??? Heute ist sein 250ster Geburstag, und dass der heute am häufigsten zitierte Germanistikprofessor, ein echter Kenner des Lebens und des Werks und sogar der Zettelkästen Jean Pauls, ausgerechnet "Pfotenhauer" heißt, hätte dem Dichter mit Sicherheit gefallen. Er selber hieß nun mal "Richter", und weil ihm das wenig behagte, nante er sich ausschließlich Jean Paul, angeblich aus Verehrung für (ausgerechnet) Marat - und nach dessen Erdolchung durch Charlotte Corday, über die Jean Paul auch geschrieben hat, hat er es nicht geändert. Nun las ich aber auch heute in FAZ die Unterstellung, es sei ein vergebliches Unterfangen, auch nur einen Roman von Jean Paul in eigenen Worten wiederzugeben, wörtlich: "Niemand kann die Handlung eines Romans von Jean Paul oder auch nur die ersten hundert Seiten des Titan (1800) komplett nacherzählen" - na gut, ob in allen Verästelungen und Abschweifungen, will ich jetzt nicht sagen, aber ich habe in den Endsiebziger Jahren, als ich zu studieren begann, ein Lesetagebuch geführt, immer mit ungefähren Inhaltsangaben und einer kurzen Bewertung, und darin u. a. den Quintus Fixlein nacherzählt, bitte, wer den Roman einigermassen kennt, urteile selbst. Wenn's gefällt, bringe ich unter der Rubrik "Lesetagebuch" noch öfter Einträge dieser Art, sind teilweise lustig zu lesen. Darin auch Rahel Varnhagen, Lichtstreifen und Glutwege, Schmidts Kaff, de Sades Juliette, Sternes Tristram Shandy  komplett mit einer stammbaumähnlichen Übersichtskarte der Protagonisten. Im ersten dieser Hefte habe ich auch noch korrekt datiert, was ich gelesen habe, später war ich nachlässiger, und das zweite Heft brauch ich in der Mitte ab und ich hörte irgendwie auf mit Lesetagebuch-Führen. Schade eigentlich, damals - so mein Eindruck - hab ich bewußter und urteilsfreudiger gelesen. Das Lesetagebuch bewahre ich übrigens zusammen mit einem Heft mit Briefabschriften auf. In einem Brief vom 2. 8.1983 schrieb ich einer Freundin (übrigens inzwischen verstorben): "Ich sah gestern einen Film im TV, er hieß 'Das Spiel ist aus' & handelte von zwei Liebenden im Reich der Toten, sie dürfen es für 24 Stunden verlassen. Das zugrundeliegende Buch ist von Sartre. Im Film sah es so aus, daß die Toten immer so auf der Straße dastehen und den Lebenden zusehen, bloß die Lebenden sehen & gehören ihr Gelächter nicht. Alles passiert immer gleichzeitig."

    Aus meinem Lesetagebuch (10. August 1978)

    Jean Paul, Leben des Quintus Fixlein

    (mit allen Beigaben und Vorreden wie 1800)

    Erste Vorrede: er erklärt seinen Freunden, was alles enthalten ist, und gibt ein bißchen Lebensbelehrung. Auf kleinste Dinge achten (Mikroskop) und so weit übers Alltägliche rausgehen, daß die Große Welt ganz klein wird. (Großes -> kleinem, Kleines zu größerm) und der dritte Weg zum Glück: beides wechseln. Der erste Weg: zu gut, zu schwierig, der zweite nicht gut genug.

    Geschichte der Vorrede zur 2. Auflage:

    Jean Paul "macht sich lebhaft", indem er von Hof nach Bayreuth zu Fuß geht, mit der Tafel, um Vorrede dadrauf zu schreiben. Da sieht er ein schönes Mädchen von hinten in einem Wagen und will ihr hinterher, um ihr ins Gesicht zu sehen, zwischendurch setzt er immer wieder zur Vorrede an, die Sonne geht auf und stört ihn. Als er's wieder versucht, holt ihn der Kunstrat Fraischdörfer aus Haarhaar ein und hält ihn mit ästhetischem Geschwätz von der Verfolgung der Dame und seiner Vorrede ab. Hält ihn für Fixlein statt für Jean Paul und schimpft über den Autor. Entwickelt barbarischen, menschenverachtenden Ästhetizismus Jean Paul selbst schiebt Betrachtung über Humor ein etc. Trifft das Mädchen vor der Post, Tochter von Oehrmann aus dem Siebenkäs-Vorwort. Er geht mit der Verlobten vom Gerichtshalter Weyermann essen und er fährt mir ihr in der Postkutsche weiter. Reflexionen über Eheelend junger Mädchen, Anrede und erzählt den Mußteil. Schreibt was auf die Tafel und gibt es ihr bei einer Pause.

    Mondfinsternis: schöne Naturbeschreibung, kosmische Menschenmutter, böser Schlangengenius, der die Töchter verführen will mit Geld, Eheringen etc. Die ungeborenen Seelen werden vom schönen Genius der Religion gerettet, und er geht mit ihnen in's Leben, während die Schlange zerkleinert auf der Erde weiter ihr Unwesen treibt. Paulines Tränen fließen.

    Mussteil für Mädchen 

    Tod eines Engels. Es geht um den Engel der Stunde, der einmal sterben will wie ein Mensch, damit er den Tod, den er bringt, besser versteht. Er versetzt sich in einen im Krieg verwundeten Jüngling. Erlebt erstaunt alle menschlichen Gefühle, Trauer, Schlaf, Traum, Liebe und zum Schluß den Tod als  seligen Strahlenhimmel, wo Jüngling und Braut zusammentreffen, weil die inzwischen (vorher) schon vor Kummer gestorben ist.

    Der Mond. Jean Paul spricht wieder mal Mädchen an, für die der Mond was Besondres ist (Pflegeschwester Philippine), erklärt Größe und Eigenart des Mondes und widmet ihr die Erzählung.

    Eugenius und Rosamunde, empfindsame Wesen, sehr traurig, haben 2jähriges krankes Kind. Wegen schlechter Behandlung durch Umwelt gehen sie im Frühling in die Alpen. Geniale Naturbeschreibungen. Sie wollen in den Mond gehen. Das Kind stirbt. Der Mond geht auf, wo die toten Kinder spielen. Vater stirbt als nächstes, fiebernd. Rosamunde will jetzt auch sterben. Eugenius blickt vom Mond auf die Erde und bittet den Engel der Ruhe, sie wieder zusammenzuführen. Im Traum treffen sie sich. Der Engel nimmt gerührt Vater und Kind und sie gehen gemeinsam die Rosamunde holen.

     

    Quintus Fixlein in funfzehn Zettelkästen.

    Der Quintus (Fünftlehrer) Fixlein hat Ferien und wandert von Flachsenfingen nach Hukelum, besucht seine Mutter. Thienette bewohnt einsam das Hukelumer Schloß und betreut die alte Schloßherrin. Fixlein würde sie anderntags besuchen, mit ihrem Mann dem Rittmeister hat er's verdorben, als er seinen Hund Schill nannte, was dessen Namen ähnelt. Der fährt aber morgen weg. Fixlein  hört eine Hühnerklau-Studentengeschichte in der Kneipe und geht abends nachhaus und kriegt Kuchen von Thienette gebacken. Dann geht er in den Garten und trifft sie (Schloßgarten). Möchte sie gern lieben, kann aber nicht, weil beide zu arm (er ist mit ihr aufgewachsen). Der begleitende Quintaner hat sich eine Drossel gefangen, Frau von Aufhammer empfängt ihn nächstentags, sie verspricht, ihm zum Flachsenfinger Konrektorat zu verhelfen. Er hält ihr 'ne Predigt am Krankenbett. Fixlein verbringt Ferien mit Arbeit. Er macht sich winzigkleine Bücher, wo er Druckfehler sammelt und vergleicht. Außerdem  textkritische Arbeit an der Bibel, und zählt wie oft Buchstaben vorkommen. Macht auch skurrile Entwürfe und Vorschläge für Bücher. Hat selbst Zettelkästen für Lebensbeschreibung. Sein Bruder war im Eis umgekommen. Fixlein  bastelt auch Leimhäuser für Fliegen, sieht sich gern Kindheitssouvenirs an. Abends trifft er sich mit Thienette im Garten. -

    Im Winter verbringt er zuhause die Abende mit Zeitunglesen. Beschreibung der Weihnachtsfeier mit seiner Mutter. Die Frau Rittmeister schickt Zusage zum Konrektorat und eine Standuhr. Satirischer Einschub ("Extrawort") über preußischen Ämter-Handel. Das Konrektorat kriegt Fixlein  nur, weil die Ratsherrn glauben, er stürbe bald. Es ist nämlich so, daß alle männlichen Glieder der Fixlein-Familie mit 32 gestorben sind, und er steht vorm 32. Geburtstag, nur sein Bruder ist vor den Dreißigern ersoffen. Fixlein  kennt aber nicht sein genaues Geburtsdatum, und er macht sich Hoffnungen, daß der Termin schon vorbei ist. Konkurrent fürs Rektoramt ist Hans von Füchslein, Fixleins Vetter, der ihn haßt (milde haßt).

    Am Sonntag geht er zum Metzger Steinberger, vormals sein Vormund, der ihn unterstützt, und ihm die Ämterspesen vorstreckt, dafür gibt er dessen Tochter Nachhilfe, die sich in ihn verliebt hat, aber vergebens. - Die alte Rittmeisterin stirbt kurz vor Fixleins Geburtstag. Fixlein  erbt ein großes Himmelbett, Geld und Kostenerstattung für Quintus und Rektoramt. Thienette erbt nix, weil die Frau vor einer geplanten Testamentsänderung gestorben war. Der alte Aufhammer ist für Testamentsanfechtung Fixleins zu stolz. Fixlein  holt sein Geld und läßt sich 3 Fl. franz. Rotwein abholen. Nächstentags hat er Geburtstag. Er trifft sie abends in der Gartenlaube und sie blutet unterm Aderlaß-Verband. Er weckt sie und lädt zum Rotwein ein, sie legt den Arm in seinen. Zum Schluß in der Todesnacht hatte sie die Alte noch geküßt. Fixlein hat Mitleid. Er verspricht ihr's halbe Erbe, falls er in 1 Stunde (12.00) stirbt, denn sie hatte Wort für ihn eingelegt. Weil sie die 32er-Story nicht kennt, hält sie's für einen Eheantrag. Da reißt der Aderlaßverband, er stopft die Arterie mit einem Goldstück. -

    Fixlein  fühlt sich wohl mit dem vielen Geld und noch montags am Leben (Kantatesonntag sein Geburtstag). Dem Steinberger Metzger zahlt er die Gebühren zurück; er schenkt ihm ein paar Felle. Auflistung der Amtsgebühren. Satirische Posse über Geld und Amt. Fixlein  schreibt jetzt Suppliken, um das Pfarramt in Hukelum zu erhalten. -

    Sein Geld kriegt er, der Hund hat keinen Namen mehr. An einem Sonntag darf er aushilfsweise in H. predigen. Einen Festakt zu Martin Luther darf er auch halten und einleiten. Zu dessen Feier spricht er vom letzten Nachkommen Martin Gottlob Luther. Am Mittwoch früh, vor dem Aktus, bekommt er Besuch vom Boten, der ihm eine Pfarrvokation, die eigentlich für Füchslein bestimmt ist, bringt: Amtlicher Schreibfehler. Er hält's für seine und sperrt sie weg. Das "von" hatte Adelspurist Rittmeister untersagt. Hans von Füchslein war auch beim Aktus und dachte, er würde berufen, dann kam Fixlein aufs Katheder und spricht von seiner Berufung. Aufhammer (Rittmeister) kriegt gleichzeitig Danksagung Fixleins und Spottbrief Füchsleins. Aufgebracht wegen Grobian und wegen Öffentlichkeit bleibt Fixlein Hukelumer Pfarrer. Hans v. Fixlein  arbeitet aber mit in der Neuen allg. dtsch. Bibliothek und droht, Fixlein  zu recensieren. -

    Fixlein  zieht in Hukelum ein, er renoviert, will aber mit Thienettenhochzeit über Kantatensonntag warten. Vorbereitung für Hochzeit, Ehekontrakt, "Brautschatz". Hochzeit: Frühling, großes Fest mit Zigeunermusik. Abends romantische Szene im Garten, sie sagen "du", auf dem Friedhof weint er nochmal überm Grab seines Vaters. -

    Geburtstag Thienettes: er schenkt ihr eine Brottorte und 2 Flaschen Pontak. Jetzt erwartet sie schon ein Kind von ihm. Es wird Winter und im Winter liest der Pfaff was Kaltes. Inzwischen Frühling. Autor selbst tritt in die Story, Fixlein  bittet ihn, sein Gevatter zu werden, denn Thienette hat ein Kind bekommen. Tags drauf soll der Pfaff investiert werden.

    Sonntag Investitur über Abendgespräche lernen sie sich besser kennen, und Jean Paul verspricht F, die Errata-Sammlung mit Lebensbeschreibung herauszugeben und bleibt dort, schreibend wie Fixlein  Tageslaufbeschreibung. Fixlein  macht auch Kupferstiche, und bestellt einen neuen Kirchturmknopf. Für diesen bezahlen die Bürger, daß ihre Lebensdaten eingraviert werden. Jean Paul fragt nach dem Schränkchen mit dem Spielzeug des ertrunkenen Bruders. im 12. Kasten wird der Turmknopf aufgezogen, die Liste der Spender verlesen, aus dem alten Knopf zieht er eine Schatulle. Die Mutter hatte im Schränkchen einen Zettel gefunden, wo draufstand, daß Quintus Fixlein morgen 32 würde (sie hatte versichert: beim letzten Mal): Sie hatte alle Jahre gelogen, Jean Paul hat das Blatt in den neuen Turmknopf eingeschoben. 13. Kasten, Kantatensonntag und zugleich Tauftag, Reflexionen über Lebensnarrheit (S. 232) - 14. Kasten, Fixlein hatte spät noch die alte Bleibüx aus dem Turmuhrknopf aufgemacht und sein wahres Alter erfahren. er wird krank, bekommt Todesphantasien (genial!), Fieber, "Glaube ans Sterben". Letztes Kapitel: die "närrische Kur". Er hatte allen befohlen, so zu spielen, daß sich Quintus Fixlein in die Kindheit zurückversetzt glaubt.  Mit dem Fleischermeister zusammen überredet er ihn schließlich wieder zum Aufstehen, Jean Paul droht noch mit Nicht-Herausgabe der Lebensbeschreibung. Lebensphilosophie (Carpe diem, auch Schmidts "Julianische Tage" und "Kontinuuum" S. 244). Jean Paul verspricht, eine Antikritik gegen Füchslein zu schreiben.

    Spie spazieren nochmal herum, sie essen in der Laube, abends geht Jean Paul fort, mit dem Ehepaar, die ihn noch zum Grenzhügel bringen. Abschied. Gegen Morgen kommt er zu Hause an.

     

    Jus de tablette für Mannspersonen 

    Über die natürliche Magie der Einbildungskraft ist ein psychologisch-ästhetischer Essay über die Phantasie im Vergleich zur sinnlichen Wahrnehmung. Über Kunst - Traum - Rausch - Liebe - Dichtung, wo Phantasie in der Realität wirksam wird: im Idealisieren. Durch Metapher (Abstraktes verkörperlichen), zeitliche und räumliche Verkleinerung und Veranschaulichung - auch durch Erweiterung, Grenzenloses entsteht die Magie. Poesie vorgespiegelte Unendlichkeit, nur unvollendete Ähnlichkeit möglich und schön. Einzig Unsterbliches ist die Musik: Kraft ohne Körper (Goldrand!!!, abgeschrieben, hähä!), äußere Musik erzeugt Gefühle, nicht umgekehrt. Zufriedenheit rät Jean Paul, Einverständnis mit Illusion.

    Josuah Freudels Klaglibell 

    Angeblich eine Schrift, die Jean Paul von Quintus Fixlein gekriegt hat, der sie in der Pfarre gefunden habe. Josuah Freudel war versehentlich in die Kirche eingeschlossen worden und verbrachte seine Zeit mit Schreiben: beklagt sich über Dämon, der ihm alles vereitelt (satirische Slapsticks). Immer bei Vergnügen passiert ihm irgendein Pech, als er zum ersten Mal predigt (wollte Pfarrer werden statt Amtsvogt), verliert er seine Perücke und schleicht sich davon, hinterläßt wartende Gemeinde, außerdem bei Beerdigung Abführmittelprobleme. Hochzeitstag, Taufe, da hilft er sich ganz witzig auf der Affaire und penetriert seinen armen Gevatter. Ratsmahlzeiten hat er nur ein einzigesmal mitgegessen und vom Ratsherr Ranz und anderen Essen berichtet eine Jean-Paul-Satire (weil Rantz so gierig frißt, soll das vielleicht Goethe sein? "Auch frisset er entsetzlich"). Schluß: Kirchner war da und beim Abschreiben hat Josuah Freudel das Rausgehen verpaßt.

     

    Es gibt weder eigennützige Liebe noch Selbstliebe sondern nur eigennützige Handlungen. 

    Mehr philosophisch Universalerbe liebt den Erblasser nicht mehr, wegen Geld. Abstrakte Liebe so stark wie materielle, nicht in der Art verschieden, sondern im Grad. Liebe liebt nur Liebe (ist ihr eigener Gegenstand). Eigenliebe verstärkt Menschenliebe (nur wer sich selbst... etc.). Ziemlich anti-kantisch das Ganze.

    Selbstliebe unmöglich, weil sie sich selbst lieben müßte, weil Liebe geg. Liebe (als sähe das Auge sein Sehen). Im Kopf entsteht außer Selbst auch ein Selbst-Bild, aber den zu lieben ist wie jemanden Fremden lieben, Bezug auf Partner. Mitleid ist nicht Eigennützigkeit, weil Uneigennutz denkbar sein muß (negationis), Helvetius schärfstens abgelehnt. Liebe verbleibt überall, Geschlechterliebe, Menschenliebe etc., Mensch an sich höher zu lieben als Individuum und über allem Gott.

    Zitteraal gleichzeitig positiv und negativ elektrisch. Lehrer der Physik, um Magnetismus zu erforschen. Physiker sollten nicht nur sehen und lesen, sondern kombinieren. Wunsch an Lichtenberg, mehr zu schreiben.

     

    Rektor Fälbels Reise nach dem Fichtelberg 

    Autor stellt Reisetagebuch vor und schaltet sich zwischendurch immer wieder ein. Fälbel reist mit 12 Schülern, seiner Tochter und drei Hunden zu Fuß herum, mit Meßinstrumenten. Schauen alles auf Karten nach etc. M. Fechser, Pflegesohn des Editors, liest über die Ortschaften vor. Rektor scherzt mit den Schülern, es gibt Würste, nächstmorgig streitet er sich mit dem Wirt. Schreibt abwechselnd in Ich- und in Er-Form. Liest Wetterbetrachtungen vo4r je nach Sonne oder Regen. An einer Insel machen sie Botanik. Ausblick auf Kordula durch Jean Paul. Die Tochter des Rektors (die Mutter ist gestorben) wird doof gehalten und muß viel arbeiten. Fälbel trifft im Hofer Fuhrmannswirtshaus einen Revolutionsfreund und widerlegt die Revolution mit grotesken Argumenten (satirisch auf die unpolitischen Schulmeister angespielt), borgt sich eine Stube für Mimik-Unterricht (Verbeugen und Türöffnen lernen). Pädagogischer Ausflug des Autors. Besichtigung des Hofer Gymnasiums - wegen Ferien keiner da. Billardspiel, Streit mit dem Wirt über Stubengeld. Regen, sie sitzen lange fest. Abends Erlaubnis zum Kartenspiel. Anderntags versucht er vergeblich, die Tochter als Zofe beim Landadel loszuwerden. Danach Latein: Schüler sollen lateinisch fluchen lernen, schimpfen etc. Im Dorf, wo sie wegen Regen pausieren, werden sie für Zigeuner gehalten, und abends rotten sich die Bauern zusammen, heimlich Flucht. Anderes Dorf: Ein ungarischer Deserteur wird hingerichtet, Rektor: schon wegen seinem schlechten Latein!, als er nämlich auf Lateinisch darum bittet, Kleider anziehen zu dürfen, für Marktfrau Testament. Jean Paul schaltet sich ein, berichtet über dieses fiese Schicksal des Deserteurs. Im nächsten Dorf treffen sie nicht Jean Paul, der vom Fichtelgebirge entgegenkommt, auch der angeblich gehängte Posträuber lebt noch. 15 Tage bleiben sie wegen Regen. Rapport der Reise und Korrektur, Flora / Fauna und Dialektwörterbuch zu erstellen. Auf dem Feld Vermessungsarbeiten, wobei der Rektor von zwei Fleischergesellen zusammengeschlagen wird, die glauben, er wollte sie fesseln. Den Posträuber besucht er nicht, um, wie er sagt, nicht von ihm denunziert zu werden. Schließlich kommt Jean Paul zurück und trifft die Klasse, sagt ihnen das Wetter voraus, weil aber nach seinen Angaben schon jemand das Fichtelgebirge beschrieben hat (nämlich der Hofer Rektor), kehrt Fälbel um und endet seinen Bericht mit Dank an Jean Paul, der ihn veröffentlicht.

     

    Postskript 

    Jean Paul will zum Schluß zwar nicht mit den Lesern schimpfen, aber erstens lesen sie nur drin, solange das Wetter schlecht ist, zweitens verstehen sie die Witze nicht, man müßte demnächst noch S einprägen. Für Satire zum Schluß Abschiedsschmerz vom Leser, viele liebe Wünsche, ganz freundlicher Wunsch und letztes Wort an Otto.

     

    Sooo, da haben wir unsern Jean Paul - säuberlicher Querschnitt durch die Pastete seines Hirns, mit der satirischen Würzeinlage, dem romantischen Syrup und dem Philosophiespeck. Und am Schluß fordert der Günter de Bruyn seine Leser so lieb auf, das Buch zweimal zu lesen, daß ich's bestimmt tue. Die Anmerkungen werden leider von Seite zu Seite spärlicher, hier müßte der Fontane-Editor der Effie Briest heran! (Natürlich gibt's immer weiße Flecken.) Die Geschichte der Vorrede ganz klar ein ästhetisches Konzept, Absage an SchillahGöthe, und die Philosophischen Essays erstklassik. Der romantisierende MUSSTEIL bißchen moralinsauer (bißchen sehr!), aber das zerfließend romantische Gelee ist so genial assoziatief, daß man ihn wieder liebhat, den Jean Paul. G. de Bruyn fordert ja auf, sich auch mit ihm zu streiten - das Schöne an ihm ist, daß er da ist, sich nicht diskret-peinlich hinwegvornehmt wie Fontane, sich auch nicht weglügt wie die meisten, sondern da ist. Man spürt ihn, er redet einen an, macht 'ne Leserin an (mit der er Quintus Fixleins geerbtes Himmelbett besichtigen will!). Der Quintus Fixlein allein gäbe nicht so viel her, Fälbel ist 10mal besser, warum? Quintus Fixlein ist sehr verspielt-ironisch, auch kritisch, aber zuviel Gelee. Speziell die Thienette-Beschreibung, der Ehebund, das ist alles so weißkrägig und da wird es prüde. Und viel zu katholisch bei allem. Der Fälbel dagegen deutet durchaus den Katzenberger voraus, der reaktionär-spinnerte Rektor iss ne ganz witzige Figur, und sich selbst verhohnepipelt er desgleichen. Tatsächlich, das scheint zu stimmen mit dem Wetterfrosch Jean Paul. Einige "Fundorte" Schmidts durchaus sichtbar (und den Döblin daraufhin durchforsten). Übrigens: wird er von den Beeinflußten als erster genannt, dann Graß - die Leseverbotenen in der DDR! - und später erst die DDRlinge. Das Klaglibell ist auch ganz witzig. Alles ein bißchen zerfetzt. Am allerliebsten ist mir die Verabschiedung. Vor allem genial die Assoziationen. Besser als dieses Erstlingspuzzle ist der Katzenberger allemal, wo man merkt, daß er Todesphantasie und Sexangst ironisch überwunden hat.

     


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