• Wohin das heutige Türchen führt, kann sich jeder denken, es ist ja deutlich genug mit Symbolbild charakterisiert. "Wenn's Herzlerl brummt, ist's Arscherl g'sund" (Sprichwort). Die wahre Liebe empfindet der Klobesucher nicht nur zur eigenen Produktion, sondern auch zu dem, was er konsumiert, nämlich zum Buch. Nirgends hat man Zeit zu lesen, immer kommt was dazwischen, man wird gestört oder stört sich selbst auf, weil einem irgendwas zu Erledigendes einfällt. Nur auf dem Klo stört einen (wenn man das Glück der Alleinnutzung hat) keiner. Gabriel García Marqéz hat in seiner Autobiographie Leben, um davon zu erzählen erzählt, wie er den Don Quichotte des Cervantes nie recht hat lesen und daher nicht begreifen können, was so gut daran sei, bis er ihn auf dem Klo las, und da hatte er Zeit dazu. Das las ich übrigens neulich auf dem Klo, nachdem ich zuvor ebendaselbst die Blendung von Canetti sowie sämtliche Bände seiner Autobiographie (und vorher Teile von Tristan und Isolde im mittelhochdeutschen Original) dort gelesen hatte, z. Zt. lese ich von Theodor Plivier: Der Kaiser ging, die Generäle blieben.

    Türchen fünf

    Wir geben zurück nach Erfurt in unser thüringisches Studio, wo gerade der erste "linke" Ministerpräsident gewählt wird. Neulich hörte ich Wolf Biermann im Bundestag und dachte trotz des verbitterten Gezeters, der ist noch immer "einer von uns", schon die Art, wie er die Gitarre schrummt, und ja, selbst die Art, wie er sich (was manche meinen) lächerlich macht. Stellt euch vor, der ahlglatte Niedecken oder ein Kokainkomiker wie Konstantin Wecker hätte dort gesungen.  - Da fällt mir ein, dass gestern der 75. Geburtstag des Künstlers Harald Nägeli war. Auch so einer, der mein Heiliger geblieben ist, weil er sich nicht angeschleimt hat, nie und nirgends. Ich hatte seinen Totentanz noch in der Entstehung gesehen, morgens in aller Herrgottsfrühe, die Farbe war noch fast frisch. Da lugten schwarze Strichmännchenskelette um die Ecke, krochen hinter Stromverteilerkästen hoch oder wickelten sich um Laternenpfähle. Das alles geschah in den Endsiebziger Jahren im Banken- und Episkopats-Viertel, wo das Diözesanarchiv an die transparenten Panoramascheiben der Druckerei der klerikalkapitalistischen Rundschau grenzt. Da sah man morgens, wie sich die Glaspaläste belebten, wie die Kultpokale und bestickten Paramente im Priesterbedarfsladen schimmerten, gleich daneben das edle Besteckinstitut WMF mit angeschlossenem Tafelmuseum, und wenn man wollte, guckte man in der Rotationsdruckerei zu, wie die den ganzen Verblödungszusammenhang in Form von Zeitungspapier wieder ausspie. Zeitungspapier, das man hinterher wohin trug? Jawoll, aufs Häuschen, denn die Wasserspülung war im östlich gelegenen Stadtteil Vingst noch nicht überall selbstverständlich, da zapfte man wirklich noch Wasser vom Brunnen, wenn auch die Herztüren (Abbildung ähnlich) schon Folklore waren. In Vingst gingen übrigens auch regelmäßig die Fernsprechzellen zu Bruch, das war so ein Hobby der jungen Leute, denen die Umwelt schroff und abweisend und unveränderlich erschien, das einzige, was sich kreativ bearbeiten ließ, war der Glasbruch der gelben Teflonhäuserl. Da hat Harald Nägeli Abhilfe geschaffen, nicht, dass es vor ihm keine Graffiti gegeben hätte, man sprühlte allerlei politische Parolen ("FREIHEI") an die Wände, aber er gab den Punks und ihren Nachfolgern ein künstlerisches Thema vor: Narrenhände besprühen heute die Wände, wo früher ein Meister sparsame gestalterische Akzente in die vermeintlich geschlossene Architekturlandschaft setzte. So wie ich vorhin die eine, zur baldigen Spülung bestimmte teokallisch gestufte Pyramide in die Keramikabteilung.


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  • Heute ist der erste Tag vom Rest meines Lebens. Und was noch besser ist - heute ist das Gestern von morgen! Darum habe ich ein sinnloses Kalenderblatt als Kalenderbild zu bieten.  Ich fand es zufällig, als ich in Belgien spazierenging. Vielleicht liegt es immer noch in Blankenberge am Strand? Interessant sind die Bildchen oben rechts und links - zerrissener Rosenkranz und ein Sämann (wegen Zaalmand). Was hat das zu bedeuten?  Dann die seltsamen Heiligen des 20. Oktober. Der Heilige Wendelin von Trier soll um 580 in den Vogesen als Einsiedler gehaust haben. Seine Gebeine zählen zu den besterhaltensten frühmittelalterlichen Reliquien überhaupt. Von der heiligen Bertilla, gest. 1922 an einem Tumor, lese ich in Wikipedia: "Sie arbeitete zunächst in der Küche und schloss später in Treviso eine Ausbildung zur Krankenschwester ab. Aufgrund von Konflikten mit ihren Vorgesetzten wurde sie dann aber mit anderen Aufgaben betraut." Zur Heiligsprechung waren aber ihre Lazarettdienste im Ersten Weltkrieg ausschlaggebend, denke ich. Über die heilige Aurora finde ich ein Theaterstück von 1801 über die Beziehung Vivaldis zu einem der ihm anvertrauten violinspielenden Waisenkinder: Aurora, oder dunkel sind der Rache Wege. zweiter Teil des Schauspiels Aurora, das Kind der Hölle!  "Der Heilige heiligt alles, selbst gebrochene Eide", sagt die Aurora im Drama eines gewissen Julius Graf von Soden, der übrigens für E. T. A. Hoffmanns Oper Der Trank der Unsterblichkeit das Libretto schrieb. Der Heilige Aderaldus war Gefangener bei den Sarazenen gewesen, bevor er freikam (wie?) und in Troyes an der Seine einen Kalvarienberg baute. Der am Ende genannte Heilige Vital war aus Irland gekommen und missionierte im Pinzgau herum, bevor er als Bischof und Abt von St. Peter in Salzburg verstarb, laut Martyrologium Romanum 646. "Friert's am Tag von St. Vital, / friert es wohl noch 15 Mal" soll eine alte Bauernregel lauten. Das könnte natürlich auch für Vital aus Ravenna (28. April) gelten!

    Türchen vier

    Die Hauptheilige dieses Kalenderblatts, Äbtissin des Klosters Mortain in der Normandie, starb um 1125. Sie hatte den Orden der Dames Blanches gegründet; ein hübsches Kloster hoch oben auf den Falaisen, mit Säulenhof. Bei der Gründung half ihr Bruder mit, der hieß auch Vital: nachdem er 17 Jahre ein asketisches Leben geführt hatte, "beschäftigte er sich" - so Wikipedia - "mit dem Heil und der Errettung der umgebenden Bevölkerung und leistete praktische Hilfe für die Ausgestoßenen, die sich um ihn scharten." Ferner war er "bekannt für seinen Eifer, unempfindlich gegen Müdigkeit und ausgesprochen furchtlos." Klingt reichlich blumig. Der Schutzheilige für Mobbingopfer? Sonst haben die Viten wenig zu bieten. Da war Wenzeslaus von Trier (gern mit Wendelin verwexelt) ein anderer Schnack, laut Wikipedia soll er die kalte Ente erfunden haben, eine Art Bowle aus Wein und Sekt. Vielleicht wurde er deshalb nicht heiliggesprochen? Er hat außerdem, als die Franzosen kamen, den Heiligen Rock von Trier vor Unbill bewahrt, indem er ihn erst auf die Festung Ehrenbreitstein bei Koblenz brachte und später auf verschwiegenen Umwegen nach Augsburg, wo Wenzeslaus seinen bischöflichen Alterssitz hatte. Der Nachfolger von Napoleons Gnaden hat den Heiligen Rock 1810 wieder nach Trier gebracht.


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  • Diese von Halloween übriggebliebene Hexe steht an der belgischen Nordseeküste und hat ein Problem. Sie ist nicht gruslig! oder findet irgendwer die in einen ollen Vorhang gewandete, mit filzigen Wollhaaren bewachsene und sechsrädrige Dame aus anderen Gründen grauenerregend als aus solchen, die mit der ästhetischen Emission zusammenhängen? Könnte sie, beispielsweise, eine Invasion von Kriegsschiffen von der Kanalküste fernhalten? Sagen wir so: die Phorkyaden, die Wache halten am Eingang zum Garten der Hesperiden, von denen sich Mephisto einen Zahn und ein Auge leiht, diese mythischen Gestalten könnten mich mehr abschrecken als diese kunstlos zusammengefrickelte Juxfigur. "Hexen" sind in der Regel ältliche, zum Esoterischen neigende Damen, ich kannte selber mal eine, die recht stolz auf ihr Handwerk war. Sie mixte sonderbare Tränke aus Heilkräutern aus ihrem Garten, hatte allerlei Werkzeug von der Glaskugel zur Klangschale im Wohnzimmer und war in einem Frauenkabarett für die Klavierbegleitung zuständig; improvisierte Musik war für sie auch eine Esoterik-Komponente. Leider verstarb sie 1994 an Krebs. Sie war emanzipiert und ein bißchen verrückt, hatte einen sehr lieben Mann, der ihr den Rücken freihielt für ihre zahlreichen kreativen Unternehmungen.

    Türchen drei

    Aber wir wollen nicht das schöne alte Gedicht vergessen, das da mit dem immerwährenden Refrain an Toleranz und Willkommenskultur erinnert: "Hexen sind ja gar nicht so". Von diesem Kindergedicht sind mir außer dem Refrain noch zwei Zeilen erinnerlich, "Märchen vom gebrat'nen Kindel / sind ein ausgemachter Schwindel!" - Tremate, tremate, le streghe son tornate! war hingegen der Schlachtruf feministischer Italienerinnen der 1970er Jahre, so richtig zum Zittern gebracht hat mich der Feminismus nicht, natürlich hat er mein Leben (mit-)geprägt, aber nicht mehr als die Abwehr von Hitlers Invasion auf den britischen Inseln. Das geglückte Manöver soll nach Gerald Brousseau Gardner ein Trupp Hexen unter Führung von "Old Dorothy Clutterbuck" auf der Insel Man ohne Blutvergießen bewirkt haben. Sie bildeten am Strand einen sog. "Kraftkegel" und sangen und zauberten so lange, bis die deutschen Kriegsschiffe wieder kehrtmachten. Demgegenüber wurden die Kanalinseln 1940 am 30. Juni (Guernsey), 1. Juli (Jersey), 2. Juli (Alderney) und 3. Juli (Sark) von deutschen Truppen ohne hexische Gegenwehr erobert. John Vivian Nettles, der (inzwischen pensionierte) Inspector Barnaby aus der bekannten Fernsehserie, der zuvor auf Jersey in einer anderen Kommissarsrolle als "Jim Bergerac" ermittelte und im Triumph Roadster über die Insel düste, hat ein interessantes Buch über diese NS-Besatzungszeit in England geschrieben.


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  • Mit diesem Bild von heute, das ich unter dem Eindruck einer e-Mail ausgesucht habe, möchte ich an die Trauer beim Datenverlust erinnern. Nicht nur die ungespeicherten bzw. nicht noch zusätzlich andernorts auf externen Festplatten, Zweitcomputern oder in der "Cloud" abgelegten e-Mails, Dokumente und Bilder, die uns bei schweren Ausnahmefehlern verloren gehen, nein, auch Alt-Briefe können ein für allemal dahin sein, wenn wir den Vater Rhein gelegentlich im Keller zu Besuch haben. Allerdings hat mir ein Kölner Lyriker bei einer gewerkschaftlichen Weihnachtsfeier vor genau fünf Jahren (2009) erklärt, er fände es gar nicht so schlimm, wenn ein siebenhundertjähriges Stadtarchiv in eine riesige nasse Baugrube abstürzt, denn wat soll man mit dem alten Kram, vorwärts und schnell vergessen, desto mehr Platz für uns, denn: Neues zu produzieren, sei schließlich Aufgabe der Zeit. Der so redete, war 40 Jahre zuvor (1969) Drummer und Texter einer sog. "Kraut-Rock"-Band gewesen, sein Name hat keinen Wikipedia-Eintrag und ist jetzt schon halb vergessen, nur ich erinnere mich seiner steilen These. Die Archivalien von Jacques Offenbach, Hans Mayer, Unterlagen zur Biographie der Rheingräfin (Sybilla Mertens-Schaafhausen), die Heinrich Hubert Houben stiftete, wird eine Doktorandin oder ein Heimatforscher in 700 Jahren vermissen. Darauf erheben wir unser Glas voll schäumender Lethe mit dem Trinkspruch: memento obliti!

    Türchen zwei

    Eine Subscriptio muss ich aber noch hinterherschicken: Mit uns beginnt die neue Zeit, vorwärts immer - rückwärts nimmer, Brücken, über die wir bequem gehen durften, reißen wir nach Überquerung der Abgründe ein: Nicht anders hab ich die sogenannten Achtundsechziger erlebt, als sie angekommen waren, endete die Ära der Frechfreiheiten, Studiengebühren wurden eingeführt, Autorengruppen kaputtgemacht, Schluss mit lustig.


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  • Mal sehen, ob ich es schaffe, hier jeden Tag bis Christkind's Birthday ein nettes Foto und einen flotten Spruch aufzumachen... dann mal los!

    Okay, in einem Antiquariatskatalog wurde neulich ein Aquarell angeboten, mit einer oskar-schlemmerhaft-pummeligen Puppe, die blaugewandet wie in eine riesige Konservenbüchse gekleidet unter einem himmelblauen Hut mit runder Krempe zwei Schafe bewachte. Das Aquarell stammte von der 2010 verstorbenen Wiener Graphikerin Helga Janetschek-Becker, die u. a. für das "Café Dehmel'" gearbeitet haben soll. Auch in Walter Laqueurs Autobiographie "Best of Times, Worst of Times" ist die Rede von diesem Wiener Café. Laqueur verdankt Friedrich Torberg, der alle Brecht-Stücke in Österreich verbieten lassen wollte, eine Einladung to "Vienna's leading coffee-house, Café Dehmel". Mehr noch, die Kuratorinnen der Ausstellung "Kaffee - Konsum, Kultur, Kommerz", vom 20. März bis 24. Oktober gezeigt im Museum Malerwinkelhaus in Marktbreit, führen in ihrem 32seitigen Begleitheft aus: „In ganz Europa wurde das Kaffeehaus ein Zentrum der bürgerlichen politischen Öffentlichkeit und auch der Kunst (vor allem der Literatur). Berühmte Namen sind hiermit verbunden: das Café Greco in Rom, das Café aux Deux Magots in Paris, in Wien das Café Dehmel und in Prag das Café Arco. In Zürich spielte das Café Odeon eine wichtige Rolle als Emigrantentreffpunkt...“

     

    Türchen eins

     

     

    Ich halte den Betreffenden gern zugute, dass Richard und Ida Dehmel bedeutende Gestalten am Beginn des Jahrhunderts waren, aber das Café hieß nun mal nicht Dehmel, Deimel oder Dähmel, sondern schlicht und ergreifend: Demel. Es war mal die k. u. k. Hofzuckerbäckerei und hatte, wie Karl Kraus in Die letzten Tage der Menschheit andeutet, guten Eiskaffee! Darin lässt Kraus zu Beginn des Ersten Weltkriegs einen Grafen (namens Leopold Franz Rudolf Ernest Vinzenz Innocenz Maria) im Gespräch mit einem Baron (Alois Josef Ottokar Ignazius Eusebius Maria), die im Spätsommer 1914 die Nichtannahme des Ultimatums durch Serbien beim Frühstück feiern, debattieren ("No wann glaubst wird Frieden sein?" - "In zwei, allerspätestens drei Wochen schätz ich"). Dann hört man eine Klingel und die Stimme "Poldis", des Außenministers von Österreich, des mährischen Diplomaten Graf Leopold Anton Johann Sigismund Josef Korsinus Ferdinand Berchtold von und zu Ungarschitz, Fratting und Pullitz. Er will sich Eiskaffee bestellen, d. h., eigentlich nicht wirklich Eiskaffee, sondern "Aäßkaffee!" (man hört die Tür schließen). Der Graf kommentiert: "Das is vielleicht die einzige Schwäche, die er hat! Er adoriert Eiskaffee! Aber das muß man auch zugeben, der Eiskaffee vom Demel – also ideal!"

     

     


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