• Großbaustelle VorgebirgsgärtenDie Gegend, in der ich jetzt wohne, sieht rund ums Häuschen beschaulich aus. Grün vor allen Fenstern, Nadelbäume schirmen den Arbeitsplatz vor neugierigen Blicken ab; allenthalben Vorgärten, in denen sich Eichhörnchen tummeln, Schwärme von gefiederten Freunden fallen über unsere am Balkon aufgehängten Meisenknödel her, andere besuchen die Vogel-Drive-in-Loungesdes über uns wohnenden Ehepaars (ein niedlicher Begriff wie "-häuschen" passt dafür nicht mehr, da sind regelrechte Einflugschneisen drangezimmert)... Singvögel fühlen sich hier vor allem wohl wegen der Rückzugsgehölze auf einer eingezäunten Industriebrache, die zu zwei benachbarten Firmen für Chemie- und Schmierstoffe (keinerlei Lärm- oder Geruchsemission) gehört. Plakat aus der Fußball-WM-Zeit?Nur wenige Gehminuten entfernt tost der Verkehr auf dem Raderberggürtel, und schwarz und schweigend ragen die Hochhäuser von ehemals Deutscher Welle (heute eine leerstehende Asbesthölle) und Deutschlandfunk empor. Ich möchte auch gar nicht wissen, was unter der verkrauteten Wiese am altmodisch-gammeligen Ziegelbau der Chemiefabrik schlummert. Denn die Baugrube, die man jenseits des Gürtels ausgehoben hat, um eine neue genossenschaftliche Siedlung (mit dem euphemistischen Namen "Vorgebirgsgärten") zu errichten, entstand auf dem Gelände einer Farben- und Lackfabrik, da Handy-Werbung, abgerissenhat man jede Menge kontaminierter Erde wegkarren müssen. Übrigens hoffen wir hier auf baldige Bezugsfertigkeit der Siedlung (angekündigt für Herbst 2011), weil sich unsere Einkaufssituation mit den sicher ebenfalls neu entstehenden Konsummärkten verbessern, möglicherweise auch endlich das derzeit wegen Restaurierungsarbeiten geschlossene Zollstockbad neu eröffnet werden dürfte. Am Gürtel befinden sich mehrere Konsulate repräsentativer KfZ-Marken mit entsprechenden Parkplatz-Ländereien und architektonisch bizarren Vitrinenhäusern zum Anschauen und Preiseverhandeln (von der Nobelkarosse über Jeep-Geländewagen bis zum Biedermann-PKW ist hier alles zu haben). Bei uns im Innern des beschaulichen Raderthals merkt man gar nichts vom Großstadtgetriebe - außer Mittwochsblättchen und (samstags) bunten Fernsehprogrammprospekten in den nochmal die WaschanlageWaschanlage am RaderberggürtelBriefkästen. Aber es gibt z.B. kaum Graffiti, vielleicht, weil es eine neighbourhood watched area ist und jeder Lümmel, der mit einer Sprühflasche ertappt wird, sofort mit dem Klammerbeutel gepudert oder der Obrigkeit überstellt wird. Dafür toben sich die (jugendlichen?) Nihilisten auf dem vierspurigen Gürtel aus, wo sie zumindest nachts unbeobachtet sind - herannahende Streifenwagen kann man von weitem erkennen -, und hindern die freie Wirtschaft daran, uns glückseligmachende Produkte anzupreisen und damit via Binnennachfrage der Krise entgegenzuwirken. Jaguar-Skulptur auf der ZinneMerkwürdigerweise greift man fast nur Plakatwände an (parkende Speditions-LKWs, leider auch Bus-Wartehäuschen), nicht aber den springenden Feliden, der für den Boliden der einschlägigen Luxusmarke wirbt (wahrscheinlich ist das Firmenportal mit Videokameras gesichert). Er tut so, als wäre er massives Silber, besteht aber vermutlich doch nur aus poliertem Blech oder gar Plastikmüll. Er bleibt jedenfalls unbehelligt, was man von den stumm herumstehenden, die Landschaft verschandelnden Werbetafeln nicht sagen kann. Was mir an abgerissenen Plakaten gefällt, ist der künstlerische Effekt der Collage: Ist die obere Schicht weg, bleibt von den unteren was übrig und führt zu merkwürdigsten Parallelen, oder es entsteht ein fetzenhaftes Amalgam aus allem, was je darunter klebte, wobei für kundige Betrachter z.B. das Wort Deutschland kenntlich wird. Außerdem geben sich die Vandalen augenscheinlich viel Mühe, die Plakate unterschiedlich zu bearbeiten, mal werden sie wie eine altertümliche Schriftrolle von oben hHotline für Köln-TicketsBitte weiterblättern...eruntergezogen, mal wie ein Buch aufgeblättert, so dass aus der abgebildeten Dame, die junge Mütter ermahnt, während der Schwangerschaft keinen Alkohol zu trinken, eine fast dreidimensional im Raum platzierte Sitzriesin wird. Oft sieht auch der Untergrund der Plakate aufgeschlitzt oder, wenn Metall, wie blankgeputzt aus. Kurz und gut: mir gefällt diese täglich erneuerte Ausstellung einer sozialkritisch-hyperrealistischen, das Material der unmittelbaren Wirklichkeit verarbeitenden Gegenwartskunst in meiner Nachbarschaft, und ich werde bestimmt noch viel darüber berichten, auch noch über die Graffiti, von denen hier nur eins angedeutet werden soll, der auf das Mäuerchen über der Mr. Wash-Autowaschanlage gesprühte Imperativ "Putzen". - Viel Mühe hat man sich an der Vorgebirgsstraße gegeben. Da hat es nicht gereicht, das Plakat abzureißen oder es mit gesprühten ironischen Kommentaren, Filzschreiber-

    Vernagelte Plakatwand, Vorgebirgsstraße

    Farbakzenten oder dergleichen zu ergänzen: Da hat sich jemand richtig Mühe gegeben und die Bilder der Löwensenf-Reklame ungerührt & handwerklich einwandfrei mit Brettern vernagelt, vielleicht gar verschraubt. Waren es Fans des hinter der Wand angesiedelten Fußballclubs Fortuna Köln, denen der Gratis-Blick durchs Gebüsch auf die Spielfläche verbarrikadiert wurde? Für die werdende Mutter kein Gläschen in EhrenMich erinnert diese Handwerkskunst an die sogenannten "Bilderstürmer", deren Werk man in der Skulpturenabteilung des Doms zu Münster bewundern kann (im Kreuzgang zur Mahnung aufgestellt). Dort sind die vom Täuferregime Jan van Leydens "gestürmten" Heiligenbilder zu sehen: Ich glaube, es waren auch Heinrich Aldegrever und andere Meister der münsterländischen Schule daran beteiligt, als die Gesichter der Krisenherd oben rechts abgerissenpapistischen "Heiligen" säuberlich abgemeißelt wurden. Es dürfte Tage, wenn nicht Wochen gedauert haben, so dass die gängige Vorstellung von einem "Bildersturm" - wildgewordene Rabauken dringen mit Sensen und Dreschflegeln ein und schlagen alles zu Klump - wohl erheblich relativiert werden müsste. Besonnene, technisch versierte Leute waren hier am Werk, die mit Gründlichkeit, Geduld & Fleiß vorgingen. So, wie sie bearbeitet wurde, sieht die Werbefläche des Düsseldorfer Senfkonzerns aus, als sei sie der Zensur des Volkes unterworfen worden, das sich den Anblick phallischer Bratwürste im aufgerissenen Kindermund nicht länger zumuten lässt. Wie bei jeder Zensur konstituiert das Verschonte, erratisch Stehengebliebene, z. B. "Das ...erlebnis" und "mittelscharf" im neuen Kontext einen neuen Sinn. Aber welchen? Nun, das mag jeder Passant, wie bei jedem offenen Kunstwerk, selbst entscheiden.


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  • Allerheiligen und Allerseelen sind die Spazierfeste aus meiner Kindheit. Sie brachten Ausflüge nebst Kuchen in Cafés mit sich, etwas Peinlichkeit (wohin mit den Händen? woran soll man jetzt denken?) beim stummen Herumstehen vor eingefriedeten Gärtchen mit beschrifteten Steinen. Irgendwer wollte mitunter noch, dass ich die Hände falte und mitmurmele - "Vater unser, der du bist" und so weiter, womit ich nie was anfangen konnte... und ständig das Fingerverbrennen beim Anzünden der Stearinkerzen und nach Einbruch der Dunkelheit, das Schönste: ein Lichtermeer mit meist roten, aber auch manchmal grünen, gelben, merkwürdigerweise nie blauen Plastik-Leuchten.Grab von 1957 Auf dem Grab, zu dem man mich öfters führte als einmal im Jahr, stand eine alte Laterne aus schwerem Gußeisen, darin der gelblich-grüne Glaszylinder, auf dem Deckel ein klotziges Kreuz im Barlach-Stil. Da kam auch eins dieser rotwandigen Riesen-Teelichter rein. - Heute gehe ich immer noch zu dem Grab, das ich vom Friedhofsamt gepachtet habe. Seit einem halben Jahrhundert ist der Baum herangewachsen, der Busch musste schon reduziert werden, Efeu überwuchert alles. Dafür ist im vorigen Jahr die Lampe verschwunden. Wie ich höre, gehen Leute auf der Suche nach Altmetall über die Friedhöfe und heißen mitgehen, was nicht niet- und nagelfest ist. Schade drum, aber nicht zu ändern. Ich komme ja auch nur sporadisch ins Rechtsrheinische. An Allerheiligen wird Laub teils mit dem Rechen, teils von Hand aufgelesen, Äste, Bonbonpapier entfernt, meine Liebste bringt Pflanzen an, oft billige vom Baumarkt in der Nähe - fahren wir last minute am Feiertag hin, wird der lokale Blumenhandel belohnt für die Feiertagsarbeit. Das kommt mit neuer Erde in zwei Schalen, dann wird der Grünmüll weggebracht (schwere Schubkarre über den Müllcontainer zu hieven) und eine Gießkanne am alten Steinbrunnen gefüllt. Die Sachen gehören dem Friedhofswärter, der sie uns ausleiht, wir haben nur einen kaputten Handrechen hinter dem Findling aus der Lüneburger Heide, hergeschafft und beschriftet von dem Bildhauer Hein Derichsweiler (von ihm sind am Waisenhaus in Sülz die Bremer Stadmusikanten, und ich musste ihm mal als Männeken Pis Modell stehen). Dieser Stein aus der Eiszeit muss nicht poliert werden, nur die Efeusträhnen kriegt er frisiert und zum Pony geschnitten. Und der da unter dem Findling liegt - ich hab ihn kaum gekannt -, kommt auch von weit her, aus einem Land, das heute nicht mehr zu Deutschland gehört, wo man aber sehr deutsche Volkslieder sang, die er vermutlich kannte: Lieder, in denen man im Gras unter Linden ein Bett findet oder zwei Bäumelein in Vaters Garten stehn, das eine trägt Muskaten, das andre Braunnägelein, und wo man durch einen Trunk allzeit jung bleibt und die Mädchen in der Welt falscher als das Geld sind. Solche Lieder kannte der bestimmt auch und würde sich freuen, dass sein Grab ein Platz geworden ist, wie er romantischer nicht sein kann. Ich denke oft an ihn und überlege, ob er an mich denkt, ob er mir zusieht bei dem vielen Blödsinn, den ich mache im Leben, ob er wohl entsetzt wäre, wie wenig ich aus mir zu machen verstehe: Ich hatte doch viel mehr Zeit als er und bin schon fast 20 Jahre älter, als er geworden ist, durfte studieren, im Gegensatz zu ihm, der von der Abiturfeier weg zur Wehrsportübung eingezogen wurde und dann vom ersten Tag des Kriegs an fünf Jahre marschieren musste. Der war aber im Herzen bestimmt ein Romantiker, der Volkslieder kannte und gesungen hat, dann war er ja auch noch Journalist und Redakteur, nach 45 Dolmetscher bei den Engländern, wollte nach Britannien auswandern, und so sind meine Teilzeitberufe (Literaturhistorie, Lektorat, Liedermachen, für Geld schreiben und übersetzen) nicht ganz weit weg von dem, was er aus sich machen wollte. Um sich aus einer schwierigen, keineswegs ausweglosen dummen Alltagsverlegenheit herauszuhelfen, ist er einmal zu wagemutig gewesen, aus war's, und das ist vielleicht der Grund, warum ich's nicht bin, jedenfalls nicht im Alltag und wenn es um mich selber geht. Eigentlich wollte ich keine wehmütigen Betrachtungen anstellen, sondern zum dritten schönsten Ferienerlebnis überleiten, das wir vor 14 Tagen hatten, zur Führung über den Zollstocker Südfriedhof...

    Unten in den Kommentaren ist nach der Lampe gefragt worden; allerdings muss ich sagen, der Nostalgiewert war hier nur wenig größer als der Materialwert. So richtig schön war das Dingens nicht, ich hätte es wohl lieber auf meinem Schreibtisch gesehen als in der Schrottmühle,Grabmal Hummerich aber wenn die Hello-Kitty-Puppe jetzt einem lebenden Kind Spaß macht, ist das auch okay, soll man dem weißen Händchen einen warmen Händedruck für geben. Außerdem ist der Verlust einer Hello-Kitty-Puppe oder einer gusseisernen Grablampe kein Vergleich mit den 300 Mio. Reichsmark in 23 Paketchen, davon 230 Mio. Bargeld & der Rest in Wertpapieren, die der Kölner Stadtkämmer Dr. Türk 1944 vor den Alliierten im Erbbegräbnis der Familie Hummerich versteckte! (Dafür würde ich mich auch mal mit dem weißen Händchen anlegen und draufhauen.) Außer ihm waren nur 2 Mitarbeiter eingeweiht; das Rathaus war schon zerstört, der Nazi-Bürgermeister hatte sich abgesetzt und war am Herzschlag verstorben. Viele Kölner, heißt es, haben gegen Ende des Kriegs Schmuck oder andere Vermögenswerte auf Friedhöfen versteckt, was sich sonst dort tat, lese man in Bölls Gruppenbild mit Dame nach.Römergrab in Zollstock Als die Engländer dann im Allianz-Hochhaus am Kaiser-Wilhelm-Ring residierten, wo noch jahrelang die Kölner Stadtverwaltung war, holten sie den Dr. Türk, weil sie von der Sache Wind bekommen hatten, und der führte sie zum Versteck: und siehe da, die Mitarbeiter hatten gespurt, die Kohle war verschwunden (ob vor oder nach der Währungsreform, weiß ich nicht). - Verschwunden sind natürlich auch die Grabbeigaben des Römer-Sarkophags aus dem 3. Jhd. n. Chr., gefunden am Höniger Weg, der von der Besiedlung dieser Gegend zeugt (am Oberen Komarweg lag der Komarhof, einst römisches Landgut mit Villa). - Unweit davon stoßen wir auf einen Grabstein, der (laut Inschrift unter dem Namen, Peter Günther)Grabmal Peter Günther einem "Weltmeisterfahrer" geweiht ist, geb. 29. 8. 1882, gest. 7. 10. 1918. Er starb nicht kurz vor Ende des Weltkriegs oder in Spartakus-Aufständen, sondern gewissermaßen "im Dienst" an einem Sturz vom Rad - er war Radrennfahrer und hatte die Weltmeisterschaft im Steherrennen 1898 und das Rennen "Rund um Köln" 1911 gewonnen. Auf dem Stein steht noch: "Ihrem größten Meister widmen ihr Gedenken die Freunde: die deutschen Radfahrer ihrem Meister als Zeugen unsterblichen Ruhms." Damals war Radsport für die Arbeiterschaft ungefähr das, was heute der Fußball ist, aber viel billiger. Günthers Sponsor war die Firma Clouth (Gummiprodukte) in Köln-Nippes und förderte seine sportiven Aktivitäten mit gerade mal 300 Reichsmark im Jahr.
    Das Bestattungswesen spielte sich im Kölner Mittelalter (und das Mittelalter hielt lange vor) bei der jeweiligen Gemeindekirche im Beinhaus ab. Ziel war es, möglichst im Kirchenraum und dort nah am Altar beigesetzt zu werden, in der Hoffnung, dann schneller von der Auferstehung zu erfahren. Erst als die Franzosen den Kölnern die Zivilisation brachten, wurde der Melaten-Friedhof an der Aachener Straße geplant, wo ganz früher der Galgen, dann ein Lepra-Siechenhaus (der Name kommt von "malade"!) und danach ein Arbeits-, Zucht- und Waisenhaus standen. 1801 wurde auf Napoleons Dekret der Friedhof angelegt, wo noch Grabmal Lindgensbis in die 1830er Jahre überhaupt nur Katholiken beerdigt wurden, trotzdem war er bis Ende des Jahrhunderts pickevoll und es kamen "Entlastungsfriedhöfe" hinzu: der Nordfriedhof in Nippes-Mauenheim 1895, und 1901 der Südfriedhof im 1880 eingemeindeten Dörfchen Zollstock, wohin man anfangs mit uniformierter Blaskapelle (Hinweg: Trauermarschmusik, Rückweg etwas lustiger), Trauergästen in schwarzen Anzügen und glänzenden Zylindern und schwarz drapierten Pferdekutschen durchs Severinstor hinauszog. Muss i denn... Davon kündet noch die Auffahrt vor dem Friedhof, heute Endhaltestelle der Linie 12. Auch Busse verkehren hier, deren Nummern (131, 133, 138)  ÖPNV-User, die uns demnächst besuchen wollen, merken müssen: sie fahren nach Sülz, zum Hauptbahnhof oder eben zum Umsteigen in die 12 zum Südfriedhof, wenn man die 5-10 Min. via Markusstraße nicht zu Fuß gehen will. Den Gleisanschluss verdanken wir den Toten: man konnte die Bahn für Bestattungen mieten, sie fuhr ab 1908 zum "Südfriedhof", dann nach "Zollstock (Südfriedhof)" und heute bloß nach "Zollstock". Der nur noch als Straßenname existierende "Bonner Wall" (Befestigungsanlage gegen die Artillerie) soll damals so hoch gewesen sein - und die Bebauung außerhalb durfte wg. militärischer Sicherheitsbedenken nur ein Stockwerk hoch sein -, dass man oben auf dem Wall stehend die Ziegeleien von Zollstock erblickte, wo in den Jahren nach 1870 viele Liègeois (in Lüttich arbeitslos gewordene Fachkräfte) schafften. Grabstätte FassbenderDie wurden dann hier beerdigt, aber auch reiche Kölner (z.B. der Lackfabrikant Lindgens aus Köln-Mülheim, meiner rechtsrheinischen Heimat), die in der "Millionärsmeile" auf Melaten keinen Platz mehr gekriegt hatten, oder denen es vielleicht an Beziehungen mangelte, die trumpften dann hier posthum mit Marmor, Stein & Eisen auf, weshalb der Südfriedhof auch nicht arm an prächtigen, interessant gestalteten Grabdenkmälern ist. - Da wäre beispielsweise das Fassbender-Erbbegräbnis, das seit 1930 existiert und für das der Architekt Bruno Violi aus Mailand 1935 links die Skulpturengruppe aus Marmor schuf: Männer, die einen schweren Sarg tragen, begleitet von einer Frau und einem Kind.Grabmal Olbertz Ich sollte sie der Aufheiterung wegen zu meiner Umzugsparty einladen! - Venus mit Pfau ist auch nicht schlecht, das Grabmal aus Muschelkalk und Bronze hat etwas Unzüchtiges, man denkt so gar nicht an die Vergänglichkeit dabei, eher an die Eitelkeit des Lebens oder Wollllust mit drei L. Grabmal OlbertzLaut Webseite der Stadt Köln sollen die Pfauen sinnbildlich für die Vergänglichkeit stehen; die Figur in der Mitte sei "geradezu androgyn zu nennen", als Seele des Mannes, Mathieu Olbertz, gest. 1927, und seiner Frau Frederike, gest. 1942, gleichzeitig gedacht. Ob das so stimmt....? "Der Pfau, in feierlichem Staunen, schlägt sein Rad, die Taube stellt den Federkragen hoch", heißt es im Gedicht Erklär mir, Liebe! von Ingeborg Bachmann. - Dabei ist der Friedhof, den Adolf Kowallek, der Gartenbaudirektor der Stadt Köln geplant hatte, zu 80 % gar kein Friedhof, sondern eine Parkanlage im englischen Stil, und hat nur 47.400 Grabstätten auf 65 Hektar, während sich in Melaten 55.000 Gräber auf 47 Hektar verteilen. Einige der schönsten liegen nicht mal an Hauptwegen, sondern versteckt in allerlei Heckenlabyrinthen.
    Natürlich gibt es auf dem Südfriedhof auch die Ruhestätten einiger mehr oder minder bekannter Kölner: FC-Präsident Franz Cremer, der Gründer von Fortuna Köln, Jean Löring, aber auch das Ehrengrab für Ursula Kuhr, die ebenfalls "im Dienst" gestorben ist (geb. kurz nach Anbruch des zweiten Weltkriegs, 3. Oktober 1939, gestorben am 11. Juni 1964), denn, wie es auf dem Grabstein heißt: "Sie opferte ihr Leben zum Schutz der ihr anvertrauten Schulkinder in Volkhoven", wo ein 42jähriger Amokläufer, traumatisierter Kriegsteilnehmer, mit Flammenwerfer und Lanze in die Volksschule stürmte, und seine ehemalige Klassenlehrerin sich zusammen mit ihrer Kollegin Bollenhagen, die ebenfalls wie acht von den Kindern starb (28 wurden verletzt), dem Kerl in den Weg stellte, der sich dann noch vor der Verhaftung mit E 605 vergiftete. Ich wurde (kein Witz!) bei meiner Kriegsdienstverweigerung von den Gewissensprüfern darauf angesprochen: "Was würden Sie tun, wenn Sie zufällig auf dem Schulhof wären, hätten einen Karabiner 98 K dabei...???" Richtige Antwort bitte ankreuzen! Na, als Pazifist würde ich alles tun, um ihm den Flammenwerfer zu entwinden, mich auf ihn stürzen, ihn notfalls niederschlagen usw. - Ein prominentes Grab ist auch das von Karl Berbuer (1900 bis 1977), von dem alle das Lied vom Müllemer Bötchen kennen ("Heidewitzka, Herr Kapitän"), sein Name ist handschriftlich in ein aufgeschlagenes Buch aus Marmor eingetragen. - Peter Müller, allenthalben als "de Aap" bekannt, hatte 1952 den Ringrichter vermöbelt und wurde "auf ewige Zeiten" gesperrt, zwei Jahre später durfte er wieder boxen, er wohnte bs zu seinem Tod 1992 an der Vorgebirgsstraße (ein Schul-Busfahrer in meiner Zivi-Zeit zeigte ihn mir, "da is der Aap") und war am Schluß wohl nicht mehr ganz bei Groschen, lief im Bademantel über die Straße. Man erzählt, ein Kind habe an der Straßenauslage beim Gemüseladen einen Apfel mitgehen heißen, was er gesehen hatte; da soll er den Knaben am Schlawittchen genommen und hochgezogen haben: "Wenn de dat nochemal määhst, schlach isch dich dut! un jetz jank laufe un lass et d'r schmecke..." Claes Oldenburg- Endlich sahen wir noch die Grabstätte der Familie Mauser, die vor dem Krieg Schusswaffen, und danach Bürometallmöbel produzierte (Wolfgang Neuss sagte: "...nicht die Neutronenbombe ist eine Perversion des Geistes, Herr Egon Bahr, der Karabiner 98 K ist eine Perversion des Geistes!"). Sodatengräber SüdfriedhofEigentlich wäre oben rechts das passende Grabdenkmal für die Familie abgebildet, aber das wollten sie wohl nicht, und so hat Claes Oldenburg die Knarre vor dem K 21 in Düsseldorf abgelegt. Statt dessen sieht man die Skulptur eines bärtigen, auf einen Sarkophag gestützten Mann, der schützend mit seiner Linken einen Jungen umfasst - "War Sigmund Freud pädophil?", Bombemopfer Südfriedhofso könnte man es etikettieren. - Einen großen und sehenswerten Teil des Friedhofs nehmen die weiträumigen Ehrengräber für die Opfer des Herrn Mauser und seiner Auftraggeber ein: vom Ersten und vom Zweiten Weltkrieg, mit einem eigenen Friedhof für italienische und britische Soldaten (der gewissermaßen britisches Hoheitsgebiet ist; der Gärtner dieses Teils ist Engländer und hat als einziger Nichtmilitär das Anrecht, dort begraben zu werden). - Die deutschen Steine aus dem Ersten Weltkrieg haben oft interessante Inschriften, die Geburtsdaten stehen dran und es sind oft sehr junge Leute; die angegebenen militärischen Posten (Füsilier etc.) existieren zum Teil gar nicht mehr. Es gibt auch Soldatengräber von Juden und Mohammedanern, hebräisch oder arabisch beschriftet. Im Zweiten Weltkrieg gab es ein Einheitskreuz aus Gußbeton, an den Kanten gebogen wie entchristianisiert und dem "Eisernen Kreuz" ähnlich gemacht - dabei sind die meisten gar keine Kombattanten gewesen -, auf dem nur ein Name oder mehrere stehen. Rund 20.000 Bombenopfer gab es in Köln ( davon liegen 7710 auf dem Südfriedhof; es gab sogar mal einen Fliegerangriff auf die Linie 12, bei dem 21 Leute starben), vor allem in der Nacht vom 31. Mai 1942, als 1660 Bombenflieger im Umkreis von zweieinhalb Kilometern rund um den Neumarkt alles dem Erdboden gleich machten. Die Opfer wurden teils nicht einmal identifiziert, Kriegsgefangene, aber auch Schüler mussten die verbrannten Reste aus den Kellern einsammeln. Aber auf jedem Kreuz steht ein Name, jeder Arier kriegt ein eigenes Grundstück und ein Kreuz darauf gepflanzt: das war der "Dank des Vaterlandes", aber ob die Inschriften stimmen, ist zweifelhaft. - Köln war dann von Engländern besetzt, die sich mit Konrad Adenauer nicht mehr so gut verstanden haben wie nach 1918. Am "Militärring" (wo er das Abholzen des Grüngürtels verhinderte, auch das Schleifen der Forts, aus denen Ausflugscafés werden sollten) hatten sie ihre Offizierssiedlung, die später Belgier übernahmen, da gibt's noch die anglikanische Kirche, und den Friedhofsbezirk hier. Englischer Soldatenfriedhof Zollstock
    This Cemetery was constructed by the government of the British Commonwealth..., steht am Eingang in die Mauer gemeißelt, es gibt zwei Wachhäuschen, in einem soll ein Totenbuch mit allen Namen liegen, und dasselbe in deutscher Sprache an dem anderen Häuschen: Englischer Soldatenfriedhof ZollstockHier ruhen Soldaten des Britischen Reiches, welche während des Weltkrieges 1914-1918 in Deutschland starben. Die durch ihre Gräber geweihte Erde ist als ewiger Besitz durch Vertrag mit dem deutschen Volke und der Stadt Köln gesichert auf daß ihre Ueberreste fuer immer in Ehren gehalten werden. 1925 wurde der Friedhof errichtet, unter OB Adenauer; er ist natürlich allen Besuchern immer geöffnet (ob auch am Bankfeiertag, habe ich nicht gefragt), und vor den spitzigen Wachhäuschen stehen leider keine rot uniformierten Gardisten mit Pelzmützen, was ich bei Trooping the Colours immer so pittoresk finde. 2700 tote Briten aus dem Ersten Weltkrieg liegen hier, auf ihren Steinen sind die Abzeichen ihrer Regimenter: gekrönte Brezel etc., in deren Mitte ein gigantisches Schwert-Kreuz, weitere hinten liegen Besatzungssoldaten,  BFBS-Mitarbeiter, Angehörigen etc., die nach dem Zweiten Weltkrieg in Köln gestorben sind. Den italienischen Friedhof habe ich nicht gesehen, der entstand zwischen 1925 und 1928, es gab ähnliche Enklaven für die italienischen Weltkriegstoten in München, Berlin und Breslau.

    Am Schluss kamen wir wieder beim Eingang an und bewunderten noch den nagelneuen Grabkerzenautomat ("mit Zündholz"), bei dem man sich hier mit dem Nötigsten versorgen kann, falls man Kleingeld hat & nicht in die überwältigende Blumenladenmeile gehen will, die im weiten Umkreis vor der Mauer Kränze, Dekor und Zierpflanzen offeriert. Unten an der Automatensäule eine Entsorgungsklappe für abgebrannte Lichter ("leere Mehrwegbecher hier einwerfen!"). Außerdem stehen hier ein paar besonders sorgfältig bepflanzte Gräber ohne Namen, das ist die sog. "Mustergrabanlage", eine ständige Ausstellung des Friedhofsgärtnerverbandes mit Vorschlägen, was man denn so machen lassen kann, darf und sollte, wenn es so weit ist... "Flächenbepflanzung: Euonymus fortunei 'Emerald Gaiety' oder 'Minima', Rahmenbepflanzung: "Pinus mugo 'Mops', Lichtanspruch: sonnig", und nicht vergessen: "Bis zur endgültigen dauerhaften Grabanlage wird der Hügel bepflanzt, damit sich das Erdreich nach einer Bestattung setzen kann." Darauf muss ich mich auch erstmal setzen. Das Pförtnerhäuschen, das wir passierten, um noch einen Kakao im Café Metternich zu trinken (hier gebe ich Salonabende, wenn die Besitzerin mitspielt), war übrigens schon mal abgerissen und wurde nach Bürgerprotesten mit einer Spende wieder aufgebaut.


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  • "Wie sicher ist ein Bau, der keinen Aufschub duldet?" fragte kürzlich die Frankfurter Allgemeine Zeitung in ihrem Feuilleton (Nr. 241 v. 16.10.2010). Autor des Stuttgart-21-kritischen Artikels war der Architekturkritiker Dieter Bartetzko, der auch immer wieder Artikel und ein fundiertes Buch über Pompeji geschrieben hat. Bahnhof Typ ReichstagBisher habe ich mich um die Protestaktionen in der baden-württembergischen Landeshauptstadt wenig gekümmert. Natürlich ließ es aufhorchen, als man erfuhr, wie brutal eine Demonstration mit Wasserwerfern, Reizgas und Knüppeleinsatz - auch gegen Kinder und ältere, teils ganz unbeteiligte Leute - beendet worden war. Auch zahlreiche Verletzte und einen Todesfall aus ungeklärter Ursache soll es gegeben haben. Dann verhalf mir die Deutsche Bahn, die es ja nicht mal mehr schafft, einen sonntags (!) um 5.55 Uhr in Köln abfahrenden Zug ohne 20 min Verspätung in Stuttgart eintreffen zu lassen, zu einem anderthalbstündigen Aufenthalt am Ort des Geschehens - der Bummelzug nach Hechingen war weg und vorerst kein neuer in Sicht. altmodisches FahrplankästchenHatte Hartmut Mehdorn nicht geschworen, den Eisenbahnverkehr als Alternative zur Luftfahrt auszubauen? Zur Hälfte ist es gelungen, denn die Nachteile des Fliegens hat man nun auch in der DB übernommen: bei den ständigen bekloppten englisch-deutschen Durchsagen und Verabschiedungen, beim Fressmeilenbetrieb der Bahnhöfe, auch das Lotteriespiel bei den Billigtickets, und dass man eine Stunde vor "Abfahrtszeit" da sein muss, zwar nicht zum Unterwäsche-Scanning, aber zum "Einchecken" vor hyperkomplizierten Fahrkartenautomaten, und dass man wie beim Fliegen die Fahrt nicht mehr unterbrechen darf, Verspätungen und verpatzte Anschlüsse in Kauf nimmt.

    In meiner Jugendzeit hatte ich viele Freunde und als Liedermacher viele Auftritte im Württembergischen und musste entsprechend oft in Stuttgart umsteigen. Gern unterbrach ich die Fahrt auch ein bißchen länger, was trotz Juniorpass-Billigpreis jederzeit möglich war, ohne sich irgendwas bescheinigen zu lassen. Eigentlich mochte ich die Umgebung des Bahnhofs ganz gern, der schöne Park, wo ich auf der Bank eine Laugenbrezel vom Bahnhofsstand (damals noch bezahlbar) verzehrte; die Württembergische Landesbibliothek, wo ich mein erstes ungedrucktes Manuskript des 19. Jhds. (von Wilhelm Waiblinger, "Olyra der Vampyr") und später, zu bibliographischen Zwecken, die "Schwäbische Kronik" las; das Staatstheater,  damals vom Regisseur Claus Peymann geleitet, der alle Stücke als preiswerte mehrbändige Textbücher der inszenierten Klassiker- und Thomas-Bernhard-Dramen im Schuber, mit Strichfassungen, Fotos und Materialien anbot (Peymann wurde dann schändlicherweise entlassen, weil auf dem internen schwarzen Brett der Schauspielerkantine ein Spendenaufruf für Zahnersatzkosten der inhaftierten Terroristin Gudrun Ensslin gehangen hatte, und der furchtbare Jurist Filbinger blieb noch lange in der Ministerpräsidentenvilla wohnen)... und genau dieser Park mit seinen schönen 300jährigen Bäumen, unter denen schon Ludwig Uhland wandelte, fällt jetzt einer Baugrube zum Opfer, die aus dem Traditionsbahnhof eine Untergrundbewegung machen wird und mehrere Millionenmilliarden mehr kosten soll, als sich der Normalbürger in bar vorstellen möchte. Und dabei haben garantiert auch jede Menge flüssiger Schmiermittel den Besitzer gewechselt, das will ich gern glauben, ich komme aus Köln.Bahnsteig Stuttgart

    Aber mal ehrlich - der Hauptbahnhof selber ist keine architektonische Schönheit von klassischem Zuschnitt, die man vor der Vernichtung retten müsste, sondern überdimensioniert, schmuddelig und voll düsterer, verpinkelter Ecken. Den kann man gern einreißen (und für Verbesserungen im öffentlichen Nahverkehr bin ich auch immer eingetreten). Aber vielleicht war das auch das Ziel, seit Jahren nichts mehr für die Sanierung zu tun und den Bahnhof dadurch dem sicheren Verderben preiszugeben? Denn einige Ecken sind noch "wie früher", ich sage nur: Fahrplankassetten, Wartehäuschen auf dem Bahnsteig, und der Bahnsteig ohne Schilder mit Anglizismen und ohne zackig silhouettierten überdimensionalen Zugbegleiter in Uniform aus Blech und Plastik, die den Arm zur Freigabe recken. Man müsste das Stuttgarter B-Ebenen-Projekt (was bereits vor 40 Jahren der Frankfurter Innenstadt mehr geschadet hat als die Bombardements im Zweiten Weltkrieg) sorgfältig trennen von der möglichen Streckenverbesserung auf dem Weg nach Ulm. Aber nach allem, was man hört, ist auch hier der Tunnelbau mehr als fragwürdig, die Signale seien auf europäischen Zugverkehr nicht eingerichtet und die Zeitersparnis soll nicht mehr als 10 Minuten betragen.Eingang zum Stuttgarter Bahnhof

    Als ich am 3. Oktober früh am Morgen aus dem Bahnhof kam, lastete über dem umkämpften Gelände der Eindruck einer am Vortag ausgefochtenen Schlacht, deren Pulverdampf sich erst allmählich senkte. Der Bauzaun war über und über beklebt mit satirischen Plakaten, Karikaturen, ironischen Sprüchen und Erklärungen (sogar einige - aber ganz, ganz wenige - "ich bin für Stuttgart 21"-Bekenntnisse). Auf einem Foto werden Polizisten ermahnt, Kastanien, Pflastersteine und Kinder voneinander zu unterscheiden - wie mir ein Freund, der Liedermacher Thomas Felder erzählte, der dabei war, hatten die Kinder unter Bäumen gestanden, von denen der Wasserwerfer Kastanien auf ihre Köpfe regnen ließ, und die Kastanien zurückgeworfen, worauf die Polizei gewaltsam gegen sie vorging. Es gab auch Wasserwerfer, die sich auf die unbeteiligten Gäste eines Eiscafés richteten, da flogen Stühle durch die Luft, und die Polizei veröffentlichte ein Foto eines "Demonstranten" mit Stuhl in der Hand, um die Gewalttätigkeit der Stuttgart-21-Gegner zu belegen. Thomas Felder berichtete mir auch, er sei mit Eisenstangen in die Nierengegend gestoßen worden, um ihn wegzudrängen, und eigentlich hätte er über eine schon am Boden liegende Demonstrantin trampeln müssen.  Man schleppte ihn im Polizeigriff ab und ließ ihn hinter der Menschenkette laufen. Am Morgen, als ich vor dem Bauzaun spazieren ging, war eine zusätzliche Absperrung aufgestellt, und im 'Korridor' zwischen Bauzaun und Absperrung standen in 2-3 Meter Abstand Zweier- bis Dreiergruppen uniformierter Polizisten (allein trauen sie sich wohl nicht, ich musste an Griechenland 1971 denken, wo die Polizei auch immer in Dreiergruppen patrouillierte).

    Bauzaun-Parolen

     

    Infostand der Parkschützer in Stuttgart

    Baumwaechter

    An einem Büdchen der sogenannten "Parkschützer" (die an den am Freitag, dem 22. (!) beginnenden Schlichtungsgesprächen nicht mehr teilnehmen) standen einige wildmähnige Aktivisten, eine nette Frau schenkte Kaffee aus, ein handytelefonierender Rädelsführer verabschiedete den Telefonpartner mit "oben bleiben!" - das ist die Parole der Stuttgart-21-Gegner. Der Streit um die Stadtplanung zieht wohl auch noch weitere Kreise und betrifft auch den Bibliotheksneubau ("D'r Bücherknascht"), gegen den ich als passionierter Leser ja auch eigentlich nicht sein kann. Wesentlicher ist wohl, dass die durch ihre Tallage eigentlich vollkommen gestaltlose Innenstadt von Stuttgart ohne den Bahnhof gar kein bürgerliches Zentrum mehr hätte. (Gerade deshalb geht der Protest eben nicht von linken Radikalinskis aus, sondern wird von vielen Biederbürgern getragen, und das macht der CDU im Hinblick auf die nächsten Wahlen Angst.) Die Hässlichkeit der Stadt erkennt man nur als Autofahrer beim thoroughfare, wie ein Käfer, der in den Honigtopf will und von einem Kelchrand herunterkrabbelt und auf der anderen Seite der Innenwand wieder herauf. Eine Schlender-Altstadt gibt's nicht, wohl aber einen Biergarten unter Bäumen, der jetzt wegfällt. Im Zentrum kann sich Handel und Wandel kaum entfalten, weil aller Verkehr diesen Weg gehen muss. Wer sich's leisten kann, zieht die Hanglage vor.Handreichung für PolizeiBauzaun Stuttgart 21Bauzaun Bahnhof

    An dem Informationsstand, an dem Neugierige auch durch esoterische Botschaften über "Baumseelen" und die heilsame Wirkung von Mineralquellen belehrt werden, trug ich mich in den sog. "Stuttgarter Appell" ein und gab als Wohnort auf württembergischen Hoheitsgebiet "Oberboihingen" an. Die ganze Absurdität und verbohrte Sturheit der Auseinandersetzung machte sich aber erst bemerkbar, als ich wieder in den Bahnhof kam, wo ein Mann vom Putzpersonal den Boden am Bahnsteig 13 mit einem Gerät säuberte, mit dem wohl sonst Kaugummis von den Fliesen entfernt werden. Der hatte nun allerhand Mühe, einen Aufkleber mit "Stoppt Stuttgart 21 jetzt!" abzukratzen (winzig klein, neben der großen gelben Messe-Fußbodenwerbung), damit nicht etwa der Blick eines umsteigenden Bahnreisenden auf ihn falle... Parolen abkratzenwelche Albernheit!

    Jede Generation müsse ihren Beitrag zur Modernisierung des Landes leisten, sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel auf dem Deutschlandtag der Jungen Union. Hierzu gehörten auch neue Verkehrswege. "Sonst werden wir den Anschluss an die Zukunft verlieren." Gute Güte, wie oft hab ich das schon gehört. Fortschritt muss sein, und wo gehobelt wird, fallen Späne. Ohne KKW gehen die Lichter aus. Jede Generation muss ran, Zähne zusammenbeißen bzw. Mund auf, bittere Pille rein und runter damit. Wer etwas anderes behauptet, lügt. "Wir brauchen keine Bürgerbefragung. Die Landtagswahl wird die Befragung der Bürger über das Projekt sein", erklärte die CDU-Vorsitzende mit Verweis auf die Landtagswahl in Baden-Württemberg im kommenden März. Welches Demokratieverständnis hat man im Kanzleramt? Dazu hört man außerdem immer wieder, das Projekt Stuttgart 21 sei bereits "demokratisch legitimiert", weil die beteiligten Politiker, die es auf Biegen und Brechen, mit Gummiknüppel, Tränengas und Pfefferspray durchziehen wollen, gewählte Volksvertreter seien. Hierzu hat Gottfried Benn 1933 (zur Rechtfertigung der Nazis, die er zur neuen Epoche erklärte) das Nötigste gesagt: "Wie stellen Sie sich zum Beispiel das zwölfte Jahrhundert vor, den Übergang vom romanischen zum gotischen Gefühl, meinen Sie, man hätte sich das besprochen?... Man hätte abgestimmt: Rundbogen oder Spitzbogen; man hätte debattiert über die Apsiden: rund oder polygon?"
    Ich wüsste von keinem grösseren Bauprojekt, das demokratisch zustande gekommen wäre, und schon gar nicht im Eisenbahnbau. Da wurde enteignet und entvölkert, gerodet und eingeebnet, was immer im Wege stand. Nehmen wir aber ein näher liegendes Beispiel aus der Gottfried-Benn-Gotik: Der Bau des Kölner Doms wurde nach Plänen von Albertus Magnus am 15. August 1248 begonnen, rund dreihundert Jährchen später, zur Reformationszeit, wurde den Leuten allmählich klar, dass sie auf Dauer mit einer Bauruine leben würden.Bauzaun Stuttgart 21 Über die Gotik wurde in Köln mit den Füßen abgestimmt, denn hier gab und gibt es noch ein Dutzend romanische Kirchen: Gemeindekirchen sind das gewesen, mit je eigenem Charakter, eigenen Lokalheiligtümern, eigenem Stil. Das war den Gläubigen wichtiger als die rußigschwarze gotische Gottesfabrik mit den Dreikönigsreliquien, die eher als Touristenmagnet dienen sollte, was nach der Reformation dann nicht mehr so der Bringer war. Erst im 19. Jahrhundert fand das Projekt Kölner Dom mehr Akzeptanz bei der Bevölkerung, die jetzt sogar freiwillig für den Weiterbau spendete, dann kam noch der germanisch-preußische Nationalwahn hinzu, Staatsknete kam aus Berlin - und 632 Jahre nach Baubeginn wurde der Dom fertig: am 15. Oktober 1880 - vorigen Freitag vor 130 Jahren. Übrigens kein "katholischer" Bau, sondern (so war es zumindest von den Hohenzollernkönigen geplant und steht auch noch auf einer Gedenktafel zu lesen) als sog. "Simultankirche" für beide Konfessionen, die Katholiken und Protestanten im preußischen Rheinland miteinander aussöhnen sollte. Die starke Mehrheit der Katholiken, die dem Kaiserempfang bei der Einweihung fernblieb (mitten im Kulturkampf) hat dann die protestantische Diaspora-Minderheit überredet, auf den Dom zu verzichten (wo freilich mitunter noch ökumenische Messen gefeiert werden), und sie mit einer der viel anmutigeren romanischen Kirchen, St. Maria im Kapitol, abgefunden.

    Hauptbahnhof StuttgartZurück zu "Stuttgart 21". Wie man hört, haben namhafte Architekten, allen voran der ehemalige Mitplaner des Projekts Frei Otto, der sich vor einem Jahr daraus zurückzog, einen Baustopp gefordert. Offenbar gibt es nicht nur zahlreiche Tunnels, die bereits jetzt den Untergrund durchlöchern, sondern auch noch unwägbare Mineralquellen, denen Bahnchef Grube und Ministerpräsident Mappus durch "Wasser-Management" beikommen wollen. Der Boden enthält an vielen Stellen das Mineral Anhydrit, das sich beim Feuchtwerden bis zu 50 % ausdehnen kann (sog. "Salzschwellung"). Bereits 1988 fiel beim Bau des Kaiser-Wilhelm-Tunnels in Stuttgart ein Haus deswegen in sich zusammen; Wassereinbrüche bewirkten auch, dass 1994 ein Bus in einer Müchener U-Bahn-Baugrube versank, dass 2008 in Amsterdam mehrere Häuser um 23 cm absackten und das Kölner Stadtarchiv mit seiner fast tausendjährigen Tradition in einer nassen, sandigen Baugrube verschwand, wobei auch noch zwei junge Leute, Anwohner aus der Nachbarschaft, sterben mussten. Aber warum kein Baustopp, wie sogar der Schlichter Geissler anfangs forderte, damit wenigstens solange man am Verhandlungstisch sitzt, keine Bäume mehr gefällt, keine Baugruben mehr gebohrt, keine millionenschweren Aufträge vergeben werden? Die militanteren unter den Parkschützern, die sich auf den faulen Kompromiss nicht einlassen wollen, müsste Heiner Geissler doch verstehen, hat er doch selber mal, um die Friedensbewegung zu diskreditieren, das unsäglichen Statement erlassen, der Pazifismus habe Auschwitz erst möglich gemacht. Aber die Obrigkeit hat's beschlossen, und Stefan Mappus hat sein politisches Schicksal darauf verwettet, und jetzt auch die Kanzlerin, ob sie sich einen Gefallen damit getan haben? Vielleicht stimmt das Volk auch über ihre Politik mit den Füßen ab - per Tritt in den Allerwertesten.


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  • Vor kurzem war ich im Bonner "Haus der Kultur"Bonner Haus der Kultur, 2010 zu einem Seminar der Kulturpolitischen Gesellschaft  eingeladen. Die Kulturpolitische Gesellschaft, kurz "Kupoge", betreibt hier den, achtung Denglisch, Cultural Contact Point. (mit Punkt dahinter!), das ist nämlich in good old German die "Nationale Kontaktstelle für die Kulturförderung der Europäischen Union". Solche gibt es auch in weiteren 26 Mitgliedsstaaten und 7 EWR/EFTA- bzw. assoziierten Staaten. Gagarins SchnapsflascheNa schön, nationaler Kontakthof oder kontagiöse Nahtstelle oder NKKEU, das klänge nicht halb so nett wie CCP (schließlich ist das beinah der Code, der den Astronautenhelm von Juri Gagarin zierte). Die führen also beispielsweise Seminare durch zum Thema "Europa fördert Kultur"... aber wie? EU-Programme, Förderkriterien, erfolgreiche Anträge.  Beim Antrag und seinen mehr oder minder gut verborgenen Stolperfallen hilft der Cultural Contact Point. Aber er nimmt ihn nicht entgegen – auch nicht die Europäische Kommission, die ansonsten die politischen Leitlinien formuliert und Kulturförderprogramme auflegt – die beauftragt mit der Verteilung der Kohle eine EACEA (Executive Agency for Education and Culture). Denen schickt man die Anträge und die "schütten" (wenn sie flüssig genug sind) die Mittel aus.

    Das Seminar war gut besucht - lauter Vertreter gut beleumundeter Institutionen mit wohlklingenden Namen, darunter auch manche Kommunalverwaltungseinheit (sicher auch vom Spareifer und Kürzungsterror der Kämmerer geplagt oder gar bedroht), das ein oder andere Goethe-Institut, verschiedene Kulturmanagement-Büros und einige Hungerleider wie ich, das heißt sichtlich freiberuflich-selbstausbeuterische Galeristen, Theaterleute, Vereinsmenschen mit guten Ideen und wenig auf der Tasche. Den Referentinnen konnte ich im Evaluierungsbogen höchste Kompetenz zusprechen, sie waren gut eingespielt, hatten hervorragende Kenntnisse und konnten die komplexe Materie – Zuständigkeiten, Voraussetzungen, Ziele und Grenzen der Förderpolitik – gut verständlich gliedern und erklären. Ihre Seminarunterlagen beute ich jetzt meinerseits aus, wenn ich hier für manche Mitleser, die es interessieren mag, schamlos herumplaudere, was ich gelernt habe.

    Das hört sich gut an, dachte ich, als ich im Internet des Themas gewahr wurde. Wo mir seit Jahren alle möglichen Leute, vom ver.di-Sekretär bis zur Erasmus-Studentin in den Ohren liegen, ich müsse zur Förderung unserer Vereinsvorhaben EU-Fördertöpfe auslöffeln (bzw. -fässer anzapfen), wollte ich mich hier einmal informieren, auf welchem Herd sie eigentlich stehen oder wie das eigentlich geht. Die EU fördert Forschung, Strukturentwicklung, Informations- und Kommunikations-Technologie, Drittländerkooperation, warum nicht auch Kultur?

    Jedenfalls bat ich die Schatzmeisterin unseres bescheidenen, nur auf der Basis von Mitgliederbeiträgen und gelegentlicher Bundesförderung existierenden literarischen Vereins, mich anmelden und die verhältnismäßig geringfügige Tagungsgebühr (40 €) dem Verein anlasten zu dürfen. Der Cultural Contact Point Punkt braucht die Kohle selber eher nicht, da er wohl seinerseits eine EU-geförderte Informations- und Beratungsstelle von vielen ihrer Art in der EU ist. Aber das reichliche Angebot von Kaffee, Wasser, Saft, Canapées und Wraps, Plätzchen und Obst (ein Mittagessen gespart, es ging 12.00 los) war auch nicht zu verachten.

    Haus der Kulturen-SchildDann kam aber schon der erste Clou: Auf EU-Ebene gibt's gar keine Kompetenz für Kultur, weil das Subsidiaritätsprinzip gilt. Aufgaben, welche die Einzelstaaten selber leisten (können), darf die EU gar nicht bearbeiten, mal egal, ob die Einzelstaaten überhaupt was für Kultur tun. Und wo der Gedanke des freien Wettbewerbs doch erheblich tiefere Wurzeln gefaßt hat als der des "Förderns, was es schwer hat", wär's den Brüsselern vermutlich komplett wurstegal, wenn sämtliche kommunalen Theater Deutschlands, die italienischen Opern und die französischen Cinemathèques noch obendrein schließen müssten. Das ist Ländersache...

    Immerhin gibt es im Vertrag von Lissabon den Artikel 167, der in Absatz 1) die kulturelle Vielfalt ebenso wie das gemeinsame kulturelle Erbe beschwört, in Absatz 2) die Förderung von "Zusammenarbeit", das Unterstützen und Ergänzen einzelstaatlicher Aktivitäten erlaubt – allerdings nur "erforderlichenfalls" – und laut Absatz 4) die sogenannte Kulturverträglichkeitsklausel als Maßstab an andere EU-Vorhaben formuliert und damit Kultur als Querschnittsaufgabe festlegt. Ist aber alles nicht so wahnsinnig konkret formuliert und lässt nicht viel hoffen, falls sich diejenigen Politiker durchsetzen, die alles nicht Bestseller- oder Mega-Event-Verdächtige in der Kultur  für einen Subventionstatbestand halten, den der raue Wind der frisch-freien Marktwirtschaft so schnell wie möglich hinwegfegen sollte.

    Doch zurück zum Seminarthema. Die "Schaffung eines gemeinsamen europäischen Kulturraums" ist immerhin schon ein Ziel, das zu fördern sich lohnt, weil aber die "Zusammenarbeit" im Mittelpunkt steht, kann die EU nur Kooperationen fördern. Wer ein kulturelles Vorhaben fördern lassen will, muss sich entweder Partner in anderen Ländern suchen: zur Kooperation und zur Ko-Finanzierung. Das Vorhaben sollte dabei der Entfaltung der Kulturen der Mitgliedsstaaten, der Hervorhebung des gemeinsamen kulturellen Erbes und der Unterstützung der Zusammenarbeit auf EU-Ebene dienen. "Brückenschläge" zur Ökologie-, Medien- oder Jugendförderung sind dabei möglich und erlaubt.

    Entweder man startet ein drei- bis fünfjähriges Kooperationsprojekt (Förderung 200.000 bis 500.000 € im Jahr, maximal 50 % der Gesamtkosten), dann braucht man mindestens 6 Organisationen aus 6 Ländern - einer stellt den Antrag und muss hinterher abrechnen, hat die ganze Arbeit am Hals und sollte auf unserem Kontinent fünf Freunde haben - denn alle anderen Akteure (außer "assoziiierten") müssen mitfinanzieren, das Vorhaben mitverwirklichen und hinterher die Quittungen korrekt abrechnen.Kurze Beschreibung der In Europa Befintlichen Völckern Und Ihren Eigenschafften

    Oder man backt kleinere Brötchen: Kleinere Vorhaben dürfen maximal ein Jahr dauern und werden mit 50.000 bis 200.000 € gefördert (wieder maximal 50 % der Gesamtkosten), da müssen es mindestens 3 Organisationen aus 3 Ländern sein. In beiden Fällen muß der Antrag bis 1. Oktober gestellt sein, der früheste Termin für den Start des Projekts ist der darauffolgende 1. Mai.

    Die Partner müssen einen eigenem Rechtsstatus haben (wie unser Verein als e. V., es kann aber auch eine GmbH sein), also öffentlich oder privat-rechtlich organisiert und überwiegend im kulturellen Bereich tätig sein (Schulen sind nicht so gut, Erwachsenenbildung schon besser, Uni kein Problem). Sie müssen in einem der 27 EU-Mitgliedsstaaten, in EWR-Ländern (Island, Liechtenstein, Norwegen) oder in einem der assoziierten Länder (Türkei, Kroatien, Mazedonien, Serbien, Montenegro, demnächst weitere Balkan-Länder) angesiedelt sein. Pech, wenn man etwas zusammen mit Israelis und Schweizern unternehmen will... dann muss man auf die "Sondermaßnahmen Kooperationen mit Drittländern" zurückgreifen nach der Formel 3 plus 1, sprich: Mindestens 3 Kooperationspartner aus drei EU-Ländern, mindestens eine Organisation aus einem Drittland. Hier reicht man bis 1. Mai ein und kann das Projekt frühestens am 1. November im selben Jahr beginnen.

    Außer den Kooperationsförderungen gibt es auch "Betriebskostenzuschüsse für Organisationen, die auf europäischer Ebene tätig sind", z. B. ein europäischer Dachverband literarischer Gesellschaften hätte Chancen, aber es müsste dann auch schon der Dachverband sein, nicht irgendeiner, und es durch entsprechende EU-weite Mitgliedschaften belegen. Dann gibt's auch noch Geld für "Analysen und Studien zu kulturrelevanten Themen von europäischem Interesse", da kann man sich vermutlich als wissenschaftliche Institution einen goldenen Handschlag abholen.

    Die Förderung betrifft alle Sparten: Kulturerbe steht ganz am Anfang, das würde bei unserem Verein und seinen Anliegen passen. Literatur kommt nach den Bildenden und Darstellenden Künsten - dabei dürfte grade Literatur es schwer haben wegen der babylonischen Sprachlabyrinth-Mauern (eine mickerige Barriere ist keine geeignete Metapher dafür), ferner Architektur, Design, Multimedia und Interdisziplinären Projekte. Aber kein Film. (Dafür gibt's eine eigene Förderung... vermutlich "wirtschaftsnah" wie die NRW-Filmförderung, weil via Medien die meiste Kohle damit gemacht wird und europäische Förderstrukturen für Projekte schon lange existieren. Daher die französisisch-spanisch-deutsch-italienisch-montenegrinischen "Koproduktionen", und heraus kommt immer der gleiche Italowestern oder bulgarische Drogenkrimi.)

    Ein schönes Beispiel für die "große", mehrjährige Förderung war ERHT - "European Route of Historic Theatres", ein Projekt, das von Oktober 2007 bis Oktober 2009 lief. Beteiligt waren Standorte barocker oder vorbarocker Theaterbauten, die eine Europastraße der historischen Theaterbauten ins Leben riefen. Federführend war der Verein Perspectiv in Bad Lauchstädt, seine Mitstreiter waren - neben zahlreichen assoziierten Partnern - die Stockholmer Vadstena-Akademien, das Theatre Royal im britischen Bury St. Edmunds und die Gemeinde Sabbioneta in Italien, wo das Teatro Olympico steht. Dabei wurde aber nicht nur die Architektur museal bestaunt, es fanden Exkursionen und Symposien statt, es gab eine Wanderausstellung und auf der Theaterstraße tourende Opern-Produktionen!

    Was die Förderung im kleineren Ein-Jahres-Turnus betrifft, so fiel auf, dass sie sich am aktuellen Programm "Kultur in Bewegung" ausrichten, das derzeit (von 2007 bis 2010) die Förderpolitik der EU bestimmt. Ein Blick in die gleichnamige Hochglanz-Vierfarb-Broschüre bestätigt: Alles, was (zumal auf Bühnen) zappelt, auf Händen läuft, schnadahüpfelt, seiltanzt, Ballons fliegen lässt (z. B. die Great Dragons Parade: Europäische Mythen und Legenden), auch ein europäisches mobiles Labor für Medienkünstler findet vor den Sachbearbeitern der Förderanträge besondere Gunst. Gut, dazu gab es auch noch kleinere, stillere, weniger fotogene Aktivitäten wie die Wiederherstellung verschollener armenischer Musikintrumente oder das "synkretistische Erbe der Kreuzzüge". Bewegungen müssen rhythmisch sein - wie das nächste Generalthema lauten soll, wusste man beim CCP noch nicht, war aber zuversichtlich: die EU-Kulturförderung werde mit irgendeinem Thema weitergehen.

    Für den Koordinator des Projekts steht natürlich die meiste Arbeit an. Es kann sinnvoll sein, wenn der Antragsteller aus einem kleinen, unscheinbaren Ostblockland kommt... aber als Koordinator hat man auch einen Finanzhilfevertrag zu signieren und hinterher abzurechnen, wobei die Belege von einem Belegprüfer begutachtet werden müssen (man solle einen Steuerberater und bloß keinen Wirtschaftsprüfer beauftragen, sonst werde der gesamte Förderbetrag schon durch die Prüfung aufgezehrt... der Wirtschaftsprüfer müsse persönlich haften für sein Gutachten, daher dieses so teuer!). Jeder der Mitorganisatoren (wie gesagt, mindestens zwei aus anderen Programm-Ländern müssen sich konkret & umfassend beteiligen, den Koordinator zur Abwicklung bevollmächtigen und ein Kooperationsabkommen unterzeichnen. Dann sind noch weitere "assoziierte Partner" möglich, die nicht zur Projektfinanzierung verpflichtet und deren Kosten nicht förderfähig sind. Jeder Mitorganisator (also nicht nur der Koordinator) muss zur Finanzierung beitragen:

    • durch Eigenmittel aus dem Budget der Organisation
    • und/oder Zur-Verfügung-Stellung von bezahltem Personal
    • und/oder Drittmittel (Zuschüsse, Spenden, Sponsoring etc.)

    Einnahmen aus dem Projekt können im projektierten Budget kalkuliert werden, zählen aber nicht zum Eigenanteil der Veranstalter. Das Projekt soll als Non-profit-Projekt erkennbar bleiben (also in der Einnahmen-Ausgaben-Übergangsrechnung plusminusnull ergeben). Sachleistungen sind nicht förderfähig - wohl aber sog. Mobilitäten, also Fahrt- und Unterkunftskosten, Übersetzungsleistungen und dergleichen.

    Vergabekriterien: Besonders gern gesehen wird im Sinne des Mottos "Kultur in Bewegung", wenn man sich ein Projekt ausdenkt, das Künstlerinnen und Künstler aus einem EU-Land in ein anderes befördert und ihnen dort Aufenthalte mit honorierter künstlerischer Betätigung ermöglicht. Auch die "Zirkulation von Werken und Produkten" soll befördert werden; in diesem Kontext sind wohl die Fördermittel zu sehen, die an Verlage für Übersetzungen vergeben werden (2.000 bis 60.000 €, maximal 10 Werke pro Antrag, die bereits veröffentlicht sein müssen und aus einer europäischen in eine andere europäische Sprache übersetzt werden, Anträge können nur Verlage stellen). Wenn der Interkulturelle Dialog und ein "europäischer Mehrwert" durch das Projekt gestärkt wird, hat es gute Chancen auf Förderung. Aber auch die Qualität, Orginalität, Kreativität der geplanten kulturellen Aktivitäten, die Sachkenntnis und Erfahrung im Kulturmanagement der Antragsteller und die Qualität der Partnerschaft, das Verhältnis von Maßnahme, Methode, Finanzen und Personal, sowie die Qualität des Antrags und Finanplans werden geprüft. Und schließlich werden ein überzeugendes Konzept für Öffentlichkeitsarbeit, ein hohes Niveau der Ergebnisse und Nachhaltigkeit erwartet.

    Regenbogen über dem HausDie meisten bewilligten Anträge kommen aus Italien, Frankreich und Deutschland (in dieser Reihenfolge), und in Frankreich werden von 150 Anträgen 118 bewilligt. Die Franzosen haben es auch geschafft, das Avignon-Festival fördern zu lassen, obwohl die Bedingungen für Festivals sehr kompliziert sind: es muss mindestens schon fünfmal stattgfefunden haben, Werke aus 7 Programmländern müssen einbezogen werden, die Organisatoren sollen Festivals mit hohem europäischem "Mehrwert" von geographischer Reichweite und möglichst großer Öffentlichkeitswirksamkeit veranstalten - und keine Filmfestivals. Und was kriegt Avignon dafür? Schimmelige 100.000 EUR maximal. Dafür bezahlen die mal grade die Garderobenfrauen im Papstpalast, Energiesparlampen für die Souffleuse, Satz/Layout des Programmhefts, oder? Es kam mir jedenfalls wenig vor, angesichts mehrwöchigen Auftriebs in soundsoviel Spielstätten in der Vaucluse-Metropole, vom Steinbruch bis zum Rhône-Frachtkahn. Ansonsten werden Festivals (daran waren die Städtevertreter interessiert) aber nicht gefördert, höchstens als Abschluss einer mehrteiligen internationalen Maßnahme.

    Fazit: für unsere derzeitige Vereinsarbeit habe ich noch keinen rechten Anknüpfungspunkt gesehen. Und das Ganze muss ziemlich hoch gehängt werden, wenn man an eine gescheite Summe kommen will. Es muss dann auch ein Thema her, das den ganzen Aufwand rechtfertigt. Her mit den europäischen Salonpoeten, Liedermachern, Schüttelreimern, Abenteurern und Schalksnarren. Und dann heißt es auf Pump vorarbeiten; im Grunde hat man den größten Teil des Projekts schon hinter sich, wenn der Antrag auf Finanzierung durch ist. Und am Ende muss man dieselbe Summe, die man sich von der EU erhofft, noch einmal drauflegen bzw. wenn man das nicht in der Portokasse hat, Sponsoren oder Spender finden - von den Partnern mal abgesehen, die das alles ja finanziell auch mit-stemmen sollen. Allerdings, wenn man 20.000 beantragt, verteilen sich die anderen 20.000 auf drei Partner, die ihrerseits versuchen können, entweder honorierte Dienstleistungen einzubringen (wenn sie feste Mitarbeiter haben) oder Räume zur Verfügung zu stellen und dadurch Mietkosten abzurechnen... und bloß nicht mit Belegen flunkern, die müssen alle in die Sprache des koordinierenden Projektleiters übersetzt werden! Wie wär's übrigens mit einer europäischen Straße der Hochstapler, von den Spieltischen Monte Carlos über die Bleikammern von Venedig bis ins Rathaus von Köpenick? Schließlich gehören Cagliostro, Gregor MacGregor, Alexandre Stavisky und Harry Domela (nur der polnische Graf Strapinski nicht, den hat ein Schweizer Schneidergeselle aus Seldwyl erfunden) auch zum gemeinsamen europäischen Kulturerbe.


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