• Gestern beim Lidl in der Schlange flachste ein älterer Mann vor mir mit einer Hausfrau, die sich irgendeine Yellowpress-Publikation in den Drahtwagen legte: das wär doch alles gelogen, Messe auf dem Domplatzwas da drin stünde, Männer bevorzugen Tatsachenberichte (und griff selber zum Express-is verbis, dem hierorts gedruckten Blödzeitungs-Pendant, dessen Titelstory von dem Postzusteller handelte, der eine aus ungenannten Gründen vom 2. Stock-Balkon abhängende Frau in den Armen auffing). Und ob der Vorratskauf Fronleichnams-Baldachindenn überhaupt ausreiche, fragte der Mann die Frau vor ihm. Schließlich sei morgen Feiertag. Happy Kadaver! Das ging noch so eine Weile weiter, dann langte sich der Mann noch (außer dem Flachmann mit Korn und der Boulevardgazette) eine Stange Billig-Zigaretten, ich war versucht, ihn zu fragen, ob der Vorrat denn ausreiche über den Feiertag, hielt aber den Mund. Aber erst heute fiel mir ein, dass der korrekte Anglizismus für Fronleichnam  nicht "Happy", sondern "Public viewing Cadaver" wäre. Eucharistiefeiern gab es andernorts früher (in Lüttich), Prozessionen zu diesem Fest Public viewing Cadaverzuerst in Bayern, aber in dieser Stadt wurde erstmals 1276 eine Monstranz öffentlich zur Schau gestellt (vrône lîcham, Leib des Herrn - hoc est corpus mei - davon kommt auch das Wort Hokuspokus) und zur Erbauung durch die Menge getragen, Fronleichnamsprozession in Kölnwas sich in der Gegenreformation als wahrer Publikumsrenner durchsetzen sollte - gut, die Protestanten hatten den Katholiken die bessere Musik voraus, Paul Gerhardt, Bach & Co., aber nicht so ein Event. Noch besser, in der Vorstadt, wo ich praktisch am Rheinufer zur Welt gekommen bin, gab es die sog. Müllemer Gottestracht (von mittelhochdeutsch für "tragen"), die sich als Schiffsprozession darstellt. Auf dem Weg das Rheinufer entlang sahen wir heute früh die Wasserpolente, wie sie mit zwei Schiffen vor der Severinsbrücke postiert, sich jedem Containerkahn unter heidnischer Flagge in den Weg gestellt hätten, wäre da einer gekommen. Im Aufhalten Blumenschmuck am Allerheiligstenvon Schiffen hat diese Stadt Tradition, da wurden früher fette Stapelgebühren fällig.  Außerdem sahen wir Berufsfeuerwehrleute eine Seenotrettungsstation aufbauen (herrlich, solche Events, da sieht man hierorts immer schnauzbärtig Behelmte mit neongelb markierten Pseudo-Uniformen, von deren Karabinerhaken Walkie-Talkies herabbaumeln, deren Besitzer sich wichtig-wichtig in die Hände spucken, giftrote Schnur auswerfen, Seemannsgarnknoten schlingen oder sich wispernd über den Termin für den letzten Sicherheitscheck der Anlage einigen...)

    Aber der Finger Gottes war ja schon deshalb im Spiel, weil wir hiergeblieben sind, eigentlich hatten wir ein Hotel in Belgien an der Küste gebucht, uFronleichnamsprozessionnd wer hätte gedacht, dass  zwei Tage vorher jemand von diesem Internet-Reservierungsportal anruft und mitteilt, das Hotel sei abgebrannt, da sei kein Bett mehr, auf das wir das Haupt legen könnten usw. Okay, ich war sowieso schwer erkältet und andererseits ja auch froh, dass der Brand nicht etwa ausgebrochen ist, als wir schon drin waren in der Dachkammer - da wär' Feuerwehr willkommen gewesen... Wir haben das aber erst nicht glauben wollen und an einen Aprilscherz gedacht und zurücktelefoniert, aber es stimmte, und hier kann man sogar ein Foto von dem Brand sehen, es war nicht der mit dem kersenpitkussen, das unter zware rookontwikkeling ontvlamd war, weil het in een microgolfoven opgewarmd wurde in dem Warandehof in Gijverikhove, sondern das Bed & Breakfast mit dem verheißungsvollen Wort "plage" im Namen, der Strand war aber noch 1 Std. Radweg entfernt. Kersenpitkussen hatten wir hier auch schon mal fast geröstet, aber nicht in het microgolfoven obgeLeerer Kahnwarmd.Meisner auf der Prozession

    Naja, und um angemessen für das Wunder zu danken, dass wir nicht in den Flammen erstickt sind,Weihrauchschwenker in der Prozession machten wir heute früh einen eigentlich zunächst ganz ergebnisoffenen Spaziergang zum Rhein, sahen uns die reichlichen Hochwasserfluten an und hatten Bücher an den Gratis-Bücherkasten gebracht und neue rausgeholt, darunFronleichnam-Gänsemarschter: Cartoons von Reiser (ausgerechnet im Kasten vor Alice Schwarzers Frauenturm), Gottfried von Straßburgs "Tristan" in mittelhochdeutsch-hochdeutsch in 2 Bänden, 2 Kochbücher und einen unzensierten "Havemann" von Florian Havemann, allerdings mit fehlendem Titelumschlag und abgerissener Titelei, vermutlich war das ein Widmungsexemplar, dessen Empfänger nicht genannt sein möchte. Nun wollten wir bloß ganz gemütlich noch einen Kaffee trinken, aber im Museum Ludwig war die Bedienung so tranig und das Dom-Hotel ist schon wegen Renovierung geschlossen und unversehens stolperten wir auf der Domplatte mitten in das fromme Fronleichnamsgeschehen, und just in dem Moment, wo wir uns irgendwo plaziert hatten, kam es zur Wandlung mit allerlei Klingelklangel und einem geistlichen Mädchenchor. Der Leib Christi wurde dann auch auf dem Platz ausgeteilt und wer ihn nicht haben wollte, etwa weil er sich von der KircPilgerfahnen an Fronleichnamhe entfernt habe oder geistig nicht recht vorbereitet für den Kommunionsempfang oder aus anderen Gründen unpässlich sei, der sollte die Hände auf die Schultern legen und denSchneiderinnung an Fronleichnam Segen des HErrn empfangen, das tat aber keiner, die Leute, die ja teilweise von weit her (Fahnen der Bruderschaft vom Niederrhein, altvertraute Ortsnamen darauf gestickt!) gekommen waren, stellten sich brav in die Schlange, unterhielten sich entspannt und heiter und - ich hab's genau sehen können - setzten in dem Moment den vorschriftsmäßig-frommernsten Gesichtsausdruck auf, wenn sie vor den Kapuzenträger mit dem Silberkelch traten, der ihnen das Oblatenplätzchen in die geöffnete Handschale fallen ließ. In meiner Jugend wurde das noch direkt auf die ausgestreckte Zunge serviert und eigentlich ein ziemliches Gewese gemacht, dass man es sofort runterschlucken und nicht irgendeinen Unfug damit anstellen soll. Jetzt, wenn die Leute das in der Hand halten, stecken sie es auch blitzschnell in den Mund nach dem Empfang, aber mich beschleicht immer der Verdacht, es könne einer die jute Jabe Jottes mitnehmen und zu finsteren RDelegationen in der Fronleichnamsprozessionitualzwecken, schwarzen Messen oder anderen Ekelübungen beim Café Reichardt, ToilettentürGothic-Festival oder dgl. missbrauchen, vor denen man mich als Kind immer gewarnt hat? - Die Fronleichnamspredigt des scheidenden Bischofs hatten wir gottlob verpasst! Dafür kam er später direkt an uns vorbei, die Monstranz tragend, aber nicht "trachtend" sondern wie immer ziemlich muffig dreinschauend angesichts der verstockten Gaffer am Wegrand, und Klempnerinnung an Fronleichnamnatürlich umgeben von einer Body guard aus schwarzweiß-pink behemdeten Klerikern - fröhlich wirkt der eigentlich nur, wenn er sich selber Witze erzählt und viel lieber wäre er sicher in ParHandwerker in der Fronleichnamsprozessionis bei der großen Homophoben-Hateparade gewesen. Bei seinen Kölner Landeskindern (er sieht das so patriarchalisch) weiß er ja auch nie recht, ob es nun "Hillige" (wie die hillije Knääch und Mägde, die wir später kostümiert vorbeidefilieren sahen) oder "hellige Pänz" (also eher kids from hell) sind. Wahrscheinlich beides!

    Die Pause, die nach dem Abzug der Fußtruppen einsetzte, nutzten wir für ein zweites (Rührei-)Frühstück im Café Reichardt, mit der anerkannt besten Domaussicht, der Inhaber hat den ganzen Platz weiträumig möbliert und alle Tische oder Sitze domseitig ausgerichtet. Der Cafégast kommt gar nicht dazu, anderswohin, z. B. nach der anderen großen Spiritualvisions-, Predigt- und Erlösungszentrale Kölns, dem WDR, oder nach dem Bischofspalais nebst Park im Marienjartenjässchen zu blicken. Aber dann, wenn der zugegeben lobenswerte und starke Kaffee (nur Kännchen!) seine Wirkung tut, erweist sich das Thema "Monstranz'" bzw. public viewing noch auf ganz andere Weise virulent, und das nicht nur virtuell. Die Toiletten des Etablissements haben durchsichtige Türen! Ich hatte das schon aus Erzählungen vernommen, wenn Public viewing Cadaveretwa Besucher aus technisch nicht ganz so avantgardistischen Drittweltländern völlig verzweifelt reagieren und nicht wissen, ob das jetzt womöglich sein müsse, weil sie meinen, es handle sich um die neueste Modetorheit der überkandidelten, sexuell-libertären Wohlstandsdemokratien - dass man sich, wie weiland im alten Rom, beim Klogang gesellig zeigt und auch den Sichtkontakt nicht verlieren möchte, kann ja aus geriatrischer Sicht ganz praktisch sein, vielleicht sogar aus hygienischer, denn bei durchsichtigen Scheiben traut sich doch auch der größte Schmutzfink nicht, sein Papier daneben zu werfen (oder gar daneben zu...). Kurz, Fronleichnamsmesse, Roncalliplatzman betritt die Klos, die auch sonst hochmodern sind (Naturgrotten-Deko, kugelige Elefantensitze, oder die Waschbecken, da zuppelt man an so einer Art Draht, bis auf den Granit ein dünner Plätscherfaden rieselt) und ist erstaunt, transparente Kabinettstüren zu sehen. Hat man abgeschlossen, verdunkelt sich die magische Tür beidseitig, von außen, wurde mir versichert, sei eine Art japanische Geisha, auf Herren: Samurai zu sehen, von innen (nee, nicht: die mimisch mit sich ringenden Gesichter der anderen klobesuchenden Gäste an der Pinkelrinne) einfach irgendwie matt wie von einem Dunstfilm überzogen. Aber das kann man ja vorher nicht ahnen, weshalb vielleicht so mancher das Bedürfnis eher wieder unterdrückt und nachher für fünf Mark das Shitness-Center im Hauptbahnhof benutzt. Fronleichnamsmesse, RoncalliplatzEin Fall für die Installateurs-Innung, die anschließend auf dem Vorplatz des Domforums (in Köln, wo Geld- und Gottesnot immer ganz nah beieinander sind, steht da auch ein Geldautomat der Pax-Bank), mit den anderen radikalen Minderheiten im pompa triumphalis mitging. Denn man geht hier durchaus in "Trachten" d. h. nicht nur Gottestracht, sondern als Schornsteinfeger mit Zylinderhut, als katholischer Verbindungsstudent in vollem Wichs (Füchse mit einer Fuchspelzmütze), als Karnevalier in einfacher Ausgeh-Uniform. Eine Pilgerfahne hatte QR-Code aufgedruckt, darunter stand "Markus 7, 31-33", die Legende vom Taubstummen, der sehend wird. Vielleicht durch Fronleichnamsprozession in KölnHandy-app?

    So sahen wir denn den Baldachin, zu dem meine Lebensgefährtin anfangs "Baldrian" sagte - das war wie im Klein-Erna-kann-Fremdwörter-noch-nicht-Witz, hatte aber seine eigene Logik: Religion ist Baldrian fürs Volk, die Rezeptur hatte Apotheker Dr. Karl Marx noch zu stark angesetzt - , umgeben von einer geradezu höllischen Rauchbombenentwicklung, wieder auf uns zuschwanken. Schon über den ganzen Vormittag hatte der liebe Gott für starke Wolkenbildung gesorgt, damit er auch das seine zur Kulisse beitrüge. Aber es blieb vorerst trocken und die heiligen Gerätschaften nebst Kerzenleuchtern und Lautsprechern von Domradio Köln (Slogan: "Der direkte Draht nach oben", als wär die wireless-Digitalfrequenz noch nicht erfunden), aus denen das fromme Geplärr lange nicht so süß scholl wie von den Lippen der Engelchenchöre vorhin, wackelte in die weit geöffnete Pforte der Kathedrale zurück. Leider sah man unter den vielen Gruppen, die da beteiligt waren, den Marianern, Kolpingianern, polnischen oder ungarischen Missionsgruppen, die ihre jeweiligen Landsleute behelligen, Katholischen Arbeitnehmern (ver.di in ecclesia, schön wär's), Deutschordensrittern von der Ballei "Bilderstöckchen" (so heißt hier ein Vorort, wir wohnen eher in Zollstöckchen), unter allen diesen sah ich manches pfäffische Gesicht, Fronleichnamsprozession in Kölnwie aus Kinderzeiten, diese Mischung zwischHandwerker im Fronleichnamszugen Gotthabseligkeit und Argwohn aus geschlitzten Raubtieraugen, die unaufhörlich nach links und rechts wandern,  ob die nebenan wohl auch frFronleichnam in Köln vor dem Domomm genug sind und das "richtige" glauben, also die unangenehme Seite des Katholizismus, die ich auch in Lourdes bei einer Kreuzwegpilgerschaft der "deutschen Gruppe" gesehen habe.... arrrgh! Aber es gibt auch die andere, sympathische Seite: Neben uns war ein stark schwankender älterer Kölner aufgetaucht, an dem hatte der Heilige Weingeist schon das Seine gewirkt, mit arg zerschlissenem blassblauen Pilgerrucksack vom Weltjugendtag, ein echter Köln-Bohemien, der ziemlich kehlig mitbetete und dann leider auch zu singen anhob, in einer Tonart, die dermaßen schlingernd-melismenartig wohl noch nicht von Josquin Desprez oder Orlando-wirf's-Lasso vorgesehen war, dieser sonst originelle Mensch also ließ sich denn auch noch vor dem Allerheiligsten auf die Knie fallen, das wär noch angegangen, aber er kam anschließend kaum wieder hochgerappelt und warf sich den Umstehenden beim ersten Versuch fast in die Arme, so verzückt schien er von seiner eigenen, sicher von einer sehr katholischen Mama einst beförderten Volksfrömmigkeit. Aber ein Lazarus war er deshalb noch nicht, er stand dann wieder leicht schwankend auf den zwei Beinen, die ihn noch lange über Gottes Erdenrund tragen mögen. Und wir machten uns dann auch langsam auf den Heimweg, und ich sann über das Lied nach, das von all dem Christentümlichen am ehesten, abgesehen vom Wort "ewig" für das ich hier "ungewiss" einsetze,  bei mir Rückhall findet: Wir sind nur Gast auf Erden, und wandern ohne Ruh' mit mancherlei Beschwerden einer noch ungewissen Heimat zu.


    2 commentaires
  • Danke für den Hinweis! dazu sage ich nicht "ta gueule!"

    Natürlich sah er nie wirklich wie eine Kanakenfresse aus. Er sah immer klasse aus, braungebrannt, bärtig, wie ein griechischer (und ich dachte immer, es hieße, "de Juif errant, de pas trop grec", ein Fall für den weißen Neger Wumbaba), also, ein griechischer Heros, der grade aus der attischen Triere steigt, um Circe oder Dido flachzulegen oder nach der Ouzoflasche zu greifen und nach der Gauloise noch eine Gîtane zu verkasematucken. Mein Gott, der Georges Moustaki, war er nachher der letzte lebende Piaf-Liebhaber? Jedenfalls ist er grade gestorben, le vieux con. SCHADE ! Nie werde ich seine Samba-Versionen in der minimal mania des Joao Ghiberto vergessen, immer so auf einen Ton - dapdadadapaadapdadadaaap, gefühlte zwei Minuten lang und dann der andere Akkord usw. - diese monophonen Sachen: "un pas un pierre un chemin qui chemine..." - Und die Sarah Kirsch soll auch schon am 5. Mai gestorben sein, das finde ich auch noch traurig, weil die nun wirklich mal eine in meiner Jugend von mir verehrte Dichterin war. Ich hab sogar Signaturen von ihr, mit Blümchen. In einem der Bände, das in der DDR gedruckt ist, steht ganz vorn noch eine andere Widmung, "dem Lieben Aragorn, Gitta", auch mit Blümchen! vielleicht liest sie das jetzt ja, sie lebt in Sizilien. Leider muss ich aber sagen, dass ich heute am Frühstückstisch die Gedichte durchblätterte, um meiner Liebsten eines in den Tag mitzugeben... und - äh - naja.

    Manche Lyrikbände von damals sollte man besser unaufgeklappt lassen. Heute wirkt das alles so klassiztätssüchtig ziseliert und brav und edel, wie mit der "Tintentoga" (Rühmkorf) geschrieben. Auch so formlos in Metrik, Wortwahl, Flattersatzprosa ebend. Irgendwie ist der Goldlametta-Perlmuttpfauenaugenglanz dahin, es flattert auch keine Melodie mehr heraus, mich sprach/sprang jedenfalls auf Anhieb keine Zeile mehr richtig an. Mit Christa Wolf war's mir genauso gegangen, als ich nichtsahnend meine Studenten "Kindheitsmuster" lesen ließ und die mir bewiesen, was für ein gedrehter, unfreier, zensurverklemmter Quark die vielgerühmte Aufregerprosa von 1976 letztlich war... ich hatte sie schon heimlich für den Nobelpreis nominiert! Aber die DDR war ja Feindesland damals, das meiste von dort altes totalitäres (Hals-)Eisen und man war sehr bemüht, die Rosinen im Rost zu finden und hat all diesen Kerlen und Trinen allerhand Vorschussbonus gegeben. Der ganze verdammte Literaturbetrieb war hierzulande ja nur ein Medien-Vorwand für den Calton Creek, da gings um nüscht anderes, als Frontstadtkultur zu beweisen, und die neue Ostpolitik, da kam dann der Gegenschlag, jetzt regnete es Preise für jeden, der mal irgendwie angeeckt war und nicht im SED-Vorstand. Dabei haben all diese Umstände mit der Literatur null und nichts zu tun, so dass es für die West-Medien, das ist der Irrtum gewesen, faktisch überhaupt keine Literatur gab, immer nur Geisteswaffen gegen den bösen, bösen Sozialismus (bei denen umgekehrt dasselbe). Wer da ausscherte und nicht zufällig sehrsehr treue Fans unter den Journalisten hatte wie Böll oder Arno Schmidt, der, hatte hierzulande auch nicht viel zu melden. Und menschlich war man ja zumindest von Sarah Kirsch überhaupt nicht enttäuscht, die war so, wie ich mir eine Droste aus der Uckermark vorstellte, bei der Lesung, total lieb. Aber die Gedichte, nee, da schnackelt es nicht mehr. (Wulf Kirsten, das war auch so einer, den fand ich wahnsinnig gut, aber der ist bestimmt auch immer noch lesbar, oder...?) - Und es schwant mir, dass es nicht anders sein wird, wenn ich den Wörtern nochmal genau mit den unzart kritischen Fingern auf der Zeile nachgehe. Ein Bettinenzyklus hat mich veranlasst, das vor zehn Jahren schon mal zu machen, da war ich auf der Suche nach irgendwelchen Rahel-Anspielungen, wär ich in einem Gedicht fündig geworden, dann hätte sie auch Post von mir bekommen, ich fand aber keine. Avec sa gueule de métèque...Sie war, glaube ich, nicht jüdisch trotz des Geburtsnamens, hieß Ingrid Hella Irmelinde Bernstein, bevor sie sich "aus Protest gegen die judenverfolgung im dritten Reich" - bißchen spät, 1960, oder? - Sarah nannte und im selben Jahr Rainer Kirsch heiratete, von dem sie 1968 wieder geschieden wurde. Übrigens auch ein Guter, der Kirsch - habe seine Prosa allerdings noch nicht wieder daraufhin angeschaut - Aber Sarah und ihre Gedichte: Alles lieb, schön und "als Literatur gut", wie ein Preußenkönig zur Iphigenie-Aufführung sagte. - Die Drachensteigen-Gedichte find ich aberm etwas gelungener, ich fand sie jetzt im Bücherverschenkkasten '(jetzt, wo die Dichterin nicht mehr lebt, scheint man sich ihrer entledigen zu wollen...), Ich nahm sie mit, obwohl 2. Auflage und die Signatur weit weniger schön ist. - Es hat noch eine andere, ganzseitige Widmung: Eine "Esther", die selber dichtete oder noch dichtet, hat dieses Exemplar im August 1981l von "Bettina" geschenkt bekommen: "nachdem ich Deine Gedichte las und von der Sanftheit und dem ausgesagten Schmerz betroffen bin"... nun ja, der Klang des gespielten Klavieres, deshalb sollte man ja auch Klavier spielen können, ich hab' nie Glück bei den Frau'n gehabt, mit der Gitarre, die ja immer im Weg ist, während das Klavier im Idealfall ein Flügel ist und eine Sängerinnenbucht hat :-)

    Avec sa gueule de métèque...


    2 commentaires

  • schamanen-gesänge zur mongolischen maultrommel von dm_515444df18fb1

    Augenblicke, das gibt's. Auch Menschen, die sozusagen "im Augenblick leben". Aber Ohrenblicke? Schon schwieriger, weil man die Ohren so schlecht zumachen kann. Jedenfalls gibt es keine Ohrenlider, mancher mag es bedauern, wenn er das Pferdewiehern und Wolfsgeheul der Jakutischen Maultrommlerinnen hört.  Das Ensemble Ayakhhan pflegt die 3000 Jahre alte schamanische Tradition des Obertongesangs zur Khomis, der sibirischen Maultrommel. Ihr ist ein eigenes Khomis-Museum in Jakutsk gewidmet (Justinus Kerner hätte seine Freude daran gehabt). Die Chefin des Ensembles, Albina Degtijarewa (Bildmitte), hat das Instrument seit 1983 studiert und steht seit 1992 hauptberuflich auf der Bühne. In ihrer Heimat ist sie auch als Dichterin berühmt.  Für mich war das ein echter Ohrenblick, wenn ich an die seltsame, angespannte Stimmung in dem Saal zurückdenke. Es gingen auch Leute, die es nicht aushalten konnten, bei der ersten Gelegenheit raus (hab ich schon mal bei einem japanischen Gagaku-Hoforchester erlebt), und beinahe wurde der große Hund, den jemand mitgebracht hatte (Eintritt frei), bei den Obertönen unruhig. Er spitzte jedenfalls schon die Ohren und wollte schon mitjaulen, ließ sich aber von Frauchen wieder beruhigen.

    Mich durchrieselte es schauerlich bei dem wölfischen Geheul und Gezisch, dem Quellengeriesel und Vogelzwitschern, und der singende Oberton über dem Maultrommelgedröhn - die jeweiligen Zahnklangeisen hängen den Damen an den goldenen Kostümen herunter -  machte mir einen gräßlichen Spaß. Übrigens alles (mikrophonverstärkte) Natur, kein künstlicher Hall, keine Tonbaneinspielungen oder dergl. Ich hatte auch vorher genug Buttermilch getrunken - das Rauschgetränk der Schamanen, deren Götter dafür allerdings vergorene Pferdemilch nehmen. Daher auch die leicht psychodelischen Bildeffekte im Mittelteil, als es draußen schon dunkelte und die Aufnahmen nicht mehr scharf genug waren.

    Gmelin schreibt in seiner sibirischen Reisebeschreibung von 1736: "Die Jakuten nehmen zwey Wesen an, von deren einem alles Gute, und von dem anderen alles Böse herkomme. Jedes von diesen hat seine Familie, und manche ihrer Teufel haben Weib und Kinder. Die eine teufelische Familie schadet dem Viehe, die andere erwachsenen Menschen, die dritte den Kindern. Manche wohnen in der Luft, andere in der Erde. Eben so ist es mit ihren Göttern. Eine Gattung derselben sorget für das Vieh, eine andere für die Jagd, andere beschützen die Menschen u.s.w. alle aber wohnen sehr hoch in der Luft. Wenn ein Schaman einen Dieb angeben soll, so rufet er alle Teufel mit Namen, und fraget sie darum. Und weil die Teufel, wie sie sagen, zu bequem sind, zu ihm zu kommen, so suchet er sie selbst in ihren Jurten auf, die sich die Jakuten wie die ihrigen vorstellen. Wenn ein Jakute krank ist, so hat sich nach ihrer Meinung, der Teufel schon seiner Seele bemächtiget, so daß der Körper halb sterben muß, wenn er sie nicht zurück giebt. Ein Wolf, sagen sie, zeiget sich dem Hirten nicht von selbst, wenn er ein Schaf gestohlen hat. Eben so machet es auch der Teufel, der eine Seele weggeraubet hat. Wenn der Schaman auch alle Teufel mit Namen rufen wollte, so würde es doch keiner gestehen. Also muß er sich zu den Göttern wenden, welche die Menschen beschützen, und von ihnen den Namen des Räubers erfahren. Alsdann fährt der Schaman selbst zum Teufel, und handelt mit ihm, daß er die geraubte Seele wieder herausgiebt. Da die Teufel geizig sind, und mit allem fürlieb nehmen, so machet der Zauberer allerley Geschenke, Felle von Eichhörnern, Iltissen, Hermelin, fertig, und wenn er selbst Lust hat, ein Pferd zu verzehren, so verspricht er es dem Teufel. Stirbt der Kranke, so muß der Teufel mit dem, was er empfangen hat, zufrieden seyn. Wird er gesund so schlachtet man das versprochene Pferd. Und da kein Jakute ist, der nicht gern reich wäre, das ist, der sich nciht wünschete, daß sein Vieh gedeihen, seine Jagd glücklich seyn möchte, so kostet es ihn immer etwas, seinen Wunsch erfüllt zu sehen, und der Schaman ist allezeit das Werkzeug uind die Mittelsperson, die von den Göttern und Teufeln alles erhält.

    So bald das Frühjahr anfängt, so sammeln die Jakuten alle Pferdemilch zusammen, welche die Füllen entrathen können. Jede Familie bringt wenigstens zehen bis funfzehn Wiedro zusammen. Diese lassen sie gähren, wie die sibirischen Tartaren, Buräten und Tungusen diejenige, aus der sie Branntwein machen wollen. Wenn die gehörige Menge gesammlet ist, so wird der Schaman des Ortes eingeladen. Nach dessen Ankunft leget die ganze Familie ihre besten Kleider an, sonderlich putzen sie einen Knaben von zwölf bis funzehn Jahren aufs zierlichste. Der Schaman könnt in seinen gewöhnlichen Kleidern, und nicht in dem Ceremonienrocke, in welchem er sich den Teufeln zu zeigen pflegt, stellet sich mitten in die Jurte, das Gesicht gegen Morgen, nimmt in die linke Hand einen Topf mit gegohrener  Pferdemilch, in die rechte aber einen hölzernen Löffel. Die ganze Familie sitzt in einem Kreise, den jungen Menschen ausgenommen, der sich vor dem Schaman auf dem rechten Knie hält. Der Schaman ruft mit vielen Beugungen einen Gott nach dem andern, und so oft er einen nennet, sprützet er einen Löffel Milch in die Luft. Dieses heißt die Götter füttern, und sie sich dadurch zu Freunden machen. Weil aber der Schaman nicht weiß, ob die Götter an einem Trunke genug haben möchten, so wiederholet er eben dieses dreymal. Wenn der Zauberer glaubet, daß die Götter satt seyn mögen, so geht er mit der ganzen Gesellschaft aus der Jurte, die wieder um ihn einen Kreis schließt. Alsdann fängt er an, von der übrig gebliebenen Milch mit Andacht selbst zu trinken. Er kniet darzu nieder, und beugt sich vorher und nachdem er getrunken hat. Darauf reichet er den Topf dem jungen Menschen, der ihn kniend mit großer Ehrerbietung annimmt. Der thut einige Züge daraus, und reichet ihn hernach kniend, und mit vielen Beugungen einem jeden aus der Familie. Das geschieht so lange bis der Topf leer ist. Sie nehmen zu dieser Ceremonie keine andere, als Pferdemilch; denn ihre Götter mögen durchaus keine Kuhmilch haben. Die Trunkenheit machet diesem Feste, wie den meisten, ein Ende. Denn alle Pferdemilch muß ausgetrunken seyn, und so lange noch ein Tropfen da ist, geht niemand von der Stelle.

    Vor meiner Abreise hatte ich noch das Vergnügen, die Gaukeleyen eines tungusischen Schaman aus dieser Gegend zu sehen. Er führete uns in der Nacht um zehen Uhr auf das Feld und zündete allda ein großes Feuer an, um welches herum wir uns in einem Kreise setzen mußten. Er zog sich nackend aus, und seinen ledernen Schamansrock an, welcher mit allerley Eisenwerke behänget war. Auf jeder Schulter stund ein eisernes zackichtes Horn, damit der Anblick noch schrecklicher wurde. Er hatte keine Trommel, weil ihn der Teufel, wie er sagete, noch nicht Befehl gegeben, sich einer zu bedienen; und dieses thut er nicht eher, als bis er mit dem Schaman recht vertraut umzugehen entschlossen ist. und zwar ist es der oberste der Teufel, der solches anbefehlen muß. Denn diese Leute glauben an einer Hierarchie der Teufel, deren einige sehr mächtig, andere nur schwach sind. Ein jeder Schaman hat die seinigen, und wer ihrer die meisten hat, der vermag am meisten. Ein ganzes Heer kleiner Teufel soll nicht so viel Vermögen besitzen als in dem kleinen Finger des obersten Teufels stecket. Dieß war der Eingang, womit der tungusische Zauberer seine Künste anfieng. Hernach lief er innerhalb des Kreises, den wir bildeten, und stimmte durch das Rasseln seines Eisenwerks eine höllische Musik dazu an... Er fieng endlich an zu singen und zu schreyen, und bald darauf höreten wir Stimmen, die einen Choral mit ihm macheten. Er hatte ein Paar von seinen Spießgesellen mit sich gebracht, die sich in unsern Kreis eingeschlichen hatten und mit ihm sangen, damit der Teufel es besser hören möchte."

    Von wegen, "ein Paar von seinen Spießgesellen... eingeschlichen", die hätten dann ja vielleicht gar nicht den richtigen Teufel ansprechen können, nach der Einleitung "ein jeder hat die seinigen". Ich bin ziemlich sicher, der gute Johann Georg Gmelin (1709-1755) hat zweistimmigen Obertongesang gehört, und zwar vermutlich unterstützt durch die Maultrommel, die der Schamane als "Eisen" an den Kleidern hängen hatte, denn mit unterstützung der geschlagenen Maultrommel als Grundton und Rhythmusgeber kann ein Einzelner durchaus mehrstimmig  für den Teufel singen, wie die Schamanen-Damen oben im Film beweisen!


    2 commentaires