• Sinn gepaukt, ausgelaugt

    "Die höheren Forderungen sind an sich schon schätzbarer auch unerfüllt", soll Goethe gesagt haben, "als niedrige ganz erfüllte." Einen Moment überlegen, was das heißt... also die niedrigen ganz erfüllten sind weniger schätzbar als die unerfüllten höheren? oder wie oder was oder wer oder wen? tag der offenen flaschenKürzlich waren wir in einem Restaurant mit dem schönen Namen Fertig, da haben wir geschlagene anderthalb Stunden aufs Essen warten müssen. Auf den Speisekarten stand schon überall, man solle ein wenig Zeit mitbringen, "wir kochen frisch", und ich hatte ahnungsvoll eine Flasche Roten bestellt, der wir glasweise die Flüssignahrung entnahmen. Als das Essen serviert wurde, waren die Bohnen knackig, die Zucchinischeiben roh und das Tafelspitz hatte gerade mal ein lauwarmes Fußbad genommen, war dabei aber sehnig genug, es mit der Elektrosäge zu zerteilen. Ob der Koch eine angelernte Kraft sei, fragte ich die Kellnerin, die meinen Teller fast unberührt abservierte, nein-nein, widersprach sie, voll ausgebildet!, berechnete mir aber das Tafelspitz nicht.

    tag der offenen delikatessenglaeserJetzt hat Frankreich mal wieder den Literaturnobelpreis - und anders als damals bei Sartre, wurde er auch nicht schnöde abgelehnt - , und da stellt sich heraus, dass die Kulturministerin Fleur Pellerin seit Jheine im dichterquartettahren kein Buch mehr vor der Nase hatte. Was für ein schöner Vorname! Der Lyriker Henri 'änn bzw. Heine hätte ihr den folgenden Vers zugedacht:
    Du bist wie eine Blume,
    so schön und hold und rein,
    ...
    mir ist, als ob ich die Hände
    aufs Haupt dir legen sollt',
    betend, daß Gott dich erhalte
    so schön und rein und hold!
    Agostini Ramelli (1531-1600) hätte ihr vielleicht helfen können, er erfand 1588 das rotierende Lesepult, eine Art Mühlrad, mit dem man mehrere aufgeschlagene Bücher auf einmal lesen bzw. erstmal vor dem Gelehrtenstandpunkt abrollen lassen konnte. Aber wer bin ich, mich darüber zu ereifern, wohne ich doch in einem Bundesland, dessen Regierung die mit Steuergeldern erkaufte Kunst einer regierungseigenen, defizitär arbeitenden Spielbank am Oligarchen-Supermarkt Christie's verhökert, um eine neues Casino zu finanzieren. In meiner Schulzeit hieß mal ein Werbespruch bei RECLAM: "Wer Bücher ohne Sinn gepaukt, der hat am falschen Pinn gesaugt", wobei ich schon damals gern eine zweite Strophe hinzusetzte: "wer Reime ohne Sinn gebogen, der hat am falschen Pinn gesogen." Aber mal ehrlich, wer liest denn heute noch Bücher. Mein Schwager zu mir, schon vor Jahrzehnten: Bücher! heute steht doch alles im Internet, spart mehr Platz! Und, sagen Sie mal, Ihre Schwarten da, wieviel verkauft man von denen in der Klicksekunde? Die wenigen von mir betreuten Bücher, von den Übersetzungen mal abgesehen, liegen wie Blei in den Regalen. Jetzt erst recht, wo sogar die Amazonameisen streiken und keine Weihnachts-Buchpakete mehr zum Knausertarif ausliefern wollen.

    Doch an welchem Pinn soll man nun saugen? Über Lernmaschinen hat Max Goldt schon im Jahr 2000 das Nötige abschließend gesagt: "Es handelte sich um einen Raum, in welchem jeder Schülerplatz mit einem Kopfhörer, einem Mikrophon und zwei oder drei Knöpfen zum darauf Herumdrücken ausgestattet war. Der Lehrerplatz hatte noch einige Knöpfe mehr. sprachlaborAlle waren sehr neugierig. Es ging die Kunde, mit dem Sprachlabor würde man irgendwie 'automatisch' oder sogar 'unterbewußt' lernen." Allerdings erwies sich diese automatische Lernanstalt als falsch verkabelt, sie wurde binnen Monatsfrist geschlossen und "diente fortan als Abstellkammer für unvollständige Skelette, nicht mehr leuchtende Leuchtglobusse und revanchistische, weil den Ostverträgen nicht Rechnung tragende Deutschlandkarten. Gelegentlich, bei Raummangel, wurden noch Erdkunde- oder Deutschstunden im Sprachlabor abgehalten. In diesen Stunden zerrten die Schüler an den heraushängenden Kabeln, flochten sie zu Brezeln und pulten die Knöpfe aus den Pulten. Die Lehrer konnten das nicht sehen..."

    Und nun finde ich in einem Bücherkasten (seit Jahren ernähre ich mich von Wegwerfbüchern) ein altes Kosmos-Heftchen (Bd. 250) über Lernmaschinen. "Was führt das Schulwesen aus dem Morast der Unfähigkeit in das Licht höchster Wirksamkeit?" fragt hier Dr. rer. nat. Hans-Heinrich Vogt, Studienrat in Ingolstadt: "Die Maschine! Die Lernmaschine!... Sie lehrt ideal und sie erlaubt es auch dem Schüler, ideal zu lernen. 'Deus ex machina' - in höchster Not beschert uns die vielgeschmähte Technik den Retter! Oder täuschen wir uns? Entscheiden Sie selbst!" 1966, das war das Jahr der Intelligenztests (von denen ich mangels guter Noten zahlreiche absolvieren musste - Ergebnis jedesmal dasselbe, wie bei einer Psychologensitzung: HOCHintelligent, aber STINKEND faul, stinkintelligent und höchstfaul wäre korrekt gewesen), es war das Jahr der Lernprogramme und der Fragebögen, selbst die Wochenzeitschrift "Die Zeit" hatte das erkannt, das Evangelium nach B. F. Skinner wurde rauf- und runtergebetet. Ich hab auch mal versucht, meine defizitären Algebra-Kenntnisse durch ein solches Selbstlernbuch zu verbessern, weit hab ich es damit aber nicht gebracht,Uhr in der Barockkirche am Bodensee zum Abi-Durchschnitt 1,4 verhalf mir kein Arschversohlen, kein "Studienkreis Nachhilfe" (wo ich ganz andere Dinge trieb, hübschen Mädchen Liebesbriefe in die Anoraks beförderte, die Maobibel las usw.) und leider auch keine neumodische Maschine, sondern das fromme Religionsabitur, das damals noch möglich war, da durfte man Religion mit Deutsch und Sprachen kombinieren, und das war nun mal das mir gegebene Talent: Religion, Deutsch und Sprachen zu kombinieren, dabei ist es geblieben. Allerdings folgte ich in meiner Faulheit damit all den Fertigkeiten, die sich laut Kosmos-Heft eh nicht programmieren lassen: "Emotionales und Künstlerisches läßt sich nicht in abfragbare Fakten fassen", erklärt Dr. rer. nat. Vogt. Überhaupt seien, fährt er fort, dem programmierten Lernen in Deutschland Grenzen gesetzt. Denn das abfragbare Wissen - in den USA Trumpf - käme "dem Amerikaner mit seiner Leidenschaft für Quiz sehr entgegen". Den Deutschen attestiert der Autor: "Vor lauter Theorie vergessen wir die Praxis - und das wird wohl auch noch eine Weile so bleiben..."  Nach dem Erfolg von Trivia pursuit, dem schmählichen Ende von Wetten dass? und dem Aufstieg von Millionärs-Jauch in die Region der politischen Talkshow ist das doch eigentlich kein Problem mehr, jede Menge Erfahrung hat die Theorie beiseite gefegt. Harald Jähner hat 2003 in der Berliner Zeitung beklagt, wie die Texte von Theodor W. Adorno, schon immer harte Nüsse für den Leser, mit der Zeit immer unverständlicher würden. Er zitiert aus der Dialektik der Aufklärung das folgende (Kommentar von Jähnke kursiv): "Seit mit dem Ende des freien Warentauschs die Waren ihre ökonomischen Qualitäten einbüßten bis auf den Fetischcharakter, breitet dieser wie eine Starre über das Leben der Gesellschaft in all seinen Aspekten sich aus." Dieser Satz ist heute so gut wie unverständlich, weil der Begriff des Fetischcharakters, die erkenntniskritische Pointe des Karl Marx schen Werkes, durch dessen realpolitisches Scheitern gleich mit diskreditiert worden ist und in der philosophischen Versenkung verschwand. Ohne diese Voraussetzung lässt sich Adornos Werk aber in weiten Teilen nur missverstehen.  So also verändert sich, was einer geschrieben hat, es fehlt der Kontext und ohne den hilft auch alles Lesen und Auswendiglernen nichts. Dazu passt die seit letzten Donnerstag vom hiesigen Citizen Kane herausgegebene Terminzeitung für die Jugend der Stadt, sie heißt wie ein Waschmittel von Henkel, was ein bisschen nach "XXL" anklingen soll (1. Jahrgang! steht auf dem Titelblatt) und ihr Layout ist dem der Zeitung, die Oscar Werner als Feuerwehrmann in dem Film Fahrenheit 451 nach getaner Bücherverbrennungsarbeit hochhält, schon verflucht ähnlich. Man frag sich unwillkürlich was diese krisseligen Quadrate unter den Bildstrecken sein sollen, sind das etwa diese sog. "Texte", die man früher in Illustriertenjournalen dieser Art zwischen die Anzeigenflächen schaltete...?? Vorwiegend handelt es sich dabei um die Überführung von Smileys, facebook-Kommentaren und getwitterten Botschaften ins Printmedium. Hauptfinanziers scheinen ein Tierfutter-Discounter, ein Kredithai und ein Opel-Fachhändler zu sein, was über den Zustand der derzeit amtierenden Jugend von heute ja eigentlich alles sagt. Als Cartoonzeichner hat sich ausgerechnet der von 18metzger, der sonst die Linken-Postillen mit Karikaturen versieht, hergegeben. Wie in dem schönen Blues: "Ain't nobody's fault but mine, - If I don't read, my soul will be lost", wie es Blind Willie Johnson damals schon sehr richtig sah.

    Rock und bluesIch muss zugeben, manches von dem Wenigen, was ich selbst geschrieben und z. T. akademisch publiziert habe, ist mir heute selber nicht mehr klar. Verständlich schon, das ja, aber jedesmal rätsele ich herum, wer sich bzw. wann ich das alles ausgedacht und all die darin verbackenen Materialien herangekarrt habe? Gut, ich bin kein Youngster mehr, gehöre nicht mehr zur "50 plus"-Gruppe, sondern muss jetzt endgültig auf eine 60-minus-party, falls es sowas geben sollte. Dann wird es noch ein paar Jährchen dauern, dann wird mir wohl alles mögliche unverständlich, und ich hoffe immer noch darauf, die Ästhetische Theorie und irgendwann dann auch noch die Negative Dialektik lesen zu können. (Aber was ist mit Hegels Phänomenologie des Geistes, bis S. 20 finden sich Anstreichungen, danach sind die Seiten jungfräulich unberührt...?) Aber besser als von vorne nach hinten kann ich es durch wirres Blättern und hier und da festlesen konsumieren. Tatsächlich finde ich dann manchmal Sätze, die vollkommen treffen, wie den folgenden: "Was wahr ist am Subjekt, entfaltet sich in der Beziehung auf das, was es nicht selber ist,ist, keineswegs durch auftrumpfende Affirmation seines Soseins." Echt jetzt - ich war völlig aus dem Häuschen über diesen Satz, weil er einen anderen, höchst verstörenden Satz erklärt, den ich kommentieren wollte. So begeistert war ich von dem Fund, dass ich ihn - eingewickelt in einen thematisch anders gelagerten Sonderdruck - zitierte. graffiti in molasseAllerdings stellte sich im Nachhinein heraus, der Satz ist womöglich ganz anders gemeint, als ich dachte, bezieht sich laut einer nachgelassenen Schrift namens Ontologie und Dialektik auf Heidegger, was ich natürlich ignoriert habe: "Aber Wahrheit, die Konstellation von Subjekt und Objekt, in der beide sich durchdringen, ist so wenig auf Subjektivität zu reduzieren, wie umgekehrt auf jenes Sein, dessen Grenze zur Subjektivität Heidegger zu verwischen trachtet. Was wahr ist am Subjekt, entfaltet sich in der Beziehung auf das, was es nicht selber ist, nicht durch Herstellung blanker Identität mit sich." Verdammt noch eins, den Heidegger sollte ich doch noch zu lesen versuchen, doch in dessen Denkgebäude einzudringen, blieb mir armen Spatzenhirn versagt, obwohl ich es mit Holzwege - das schien vom Titel her gerade wie geschaffen für mich - redlich versucht habe.

    Adorno selbst war übrigens der Meinung, "dass je präziser, gewissenhafter, sachlich angemessener man sich ausdrückt, das literarische Resultat für umso schwerer verständlich gilt, während man, sobald man lax und verantwortungslos formuliert, mit einem gewissen Verständnis belohnt wird". Kurz, wer schlampt, kriegt recht. Und diese Erkenntnis kann ich sowohl als genauer Leser wie als begrifflicher Schlamper vollkommen bestätigen. Immer wenn ich es genau wissen oder erklären will, ahne ich, dass ich für das Publikum erst in hundert Jahren verständlich werde, oder vielmehr nie! Zu deprimierend, diese Analyse? Meinetwegen, aber tröstet euch, der nächste Blogeintrag handelt wieder von Eichhörnchen.


  • Commentaires

    1
    Jeudi 30 Octobre 2014 à 15:20

    Die Blume des Bösen, böse Blume, Fleur de Barbarie womöglich, sollte nicht gescholten werden. Es ist nicht so leicht, sich Bücher von Modiano zu besorgen. In der FNAC in Nizza habe ich lange gesucht, bis ich im alphabetischen Regal ganz unten in Bodenhöhe eines fand. Auf den vielen Sondertischen wurde der Prix Nobel völlig ignoriert. Dagegen lag Valéry Trierweilers Abrechnung mit François überall aus.

    2
    Frauenversteher
    Jeudi 30 Octobre 2014 à 20:43

    Ich denke sowieso: Ehrlich währt am längsten! Und Eichhorn dauert am längsten, zumindest das schwarze, das in den nächsten Blog kommen soll, das dauert bis zur Entwicklung der Papierfotos, die ich von ihm gemacht habe. - Ich gucke in den Buchläden immer, was aus dem Deutschen übersetzt wird, manchmal ganz interessante Spezialautoren, aber auch viel Kitsch & Konsalik.

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