-
Mit christlichem Frösteln, mit geilem Gefasel: Enzensberger wird 85!
Botschaft des Tauchers: "Ich wiederhole: laßt ab, / laßt ab von uns und von euch / und von mir!"
Es muss Anfang der Neunzehnhundertsiebziger gewesen sein, da wedelte der Deutschlehrer in der Obersekunda, Unterprima, was weiß ich, mit den zurückzugebenden Klassenheften. Die schönste und freieste Klassenarbeit meiner leidvollen Gymnasialzeit: Aufgabe war gewesen, ein selbstgewähltes Gedicht mitzubringen und zu interpretieren. Na, und ich war ja der einzige Lyrikleser weit & breit, die anderen brachten Eugen Roth mit, die aus Bildungsmilieus Goethe, Schiller & Co. - "Ein Schüler hat nun einen Autor ausgewählt, den ich noch nicht kannte..." Man muss sich das vorstellen, damals war die Kursbuchzeit vorbei, waren die Gedichte 1955-1970 schon erschienen, Enzensberger war einer der bekanntesten Lyriker, wenn nicht der, vielleicht nicht ganz so bekannt wie Günter Eich oder Ingeborg Bachmann. Der Schüler, der sich ein Gedicht von H. M. E. mitgebracht und interpretiert hatte, war ich gewesen. Es war das Gedicht Der Taucher gewesen, dessen Interpretation mir nicht allzu schwierig dünkte, zumal ich mit meiner Wahl nicht unbedingt anecken und die mir überlicherweise zukommende "Eins" nicht aufs Spiel setzen wollte, natürlich wäre etwas Provokanteres wie Einführung in die Handelskorrespondenz (aus dem die Titelzeile dieses Blogeintrags stammt) oder Die Scheiße erbaulicher gewesen. Der Lehrer rächte sich dann für seine Unkenntnis des Lyrikers, indem er mir Eins minus gab und an meiner Interpretation bemängelte, dass ich die letzten drei Zeilen nicht interpretiert bzw. ignoriert hatte. Kein Wunder, das waren offenbar Morsezeichen gewesen, "Kurz-kurz-kurz /lang / kurz-lang", die Zeichen für S - T - A, was ich mir damals neben das Gedicht notiert, aber bis heute nicht entschlüsselt habe. Ich muss gelegentlich mal nachschauen, ob ich dieses Klassenheft zurückbekommen habe, einige habe ich noch, und meiner Interpretationin einer anderen Arbeit, von Georg Trakl, dem Lieblingslyriker meines Deutschlehrers von damals, bräuchte ich heute nichts mehr hinzuzufügen....
Natürlich las ich dann alles mögliche von der Verteidigung der Wölfe bis zum Verhör in Habana, Essays, Kursbücher, dokumentarische Romane und Hörspiele, sogar die Dramenübersetzungen und noch manches mehr von Hans Magnus Enzensberger. Ich habe sogar mal vergebens versucht, ihm zu schreiben, es ging um einen gemeinsamen Lieblingsschriftsteller, aber was ich damals schrieb, das kam nie an, so mein Eindruck. - Das Buch Gedichie 1955-1970 (damals konnte ich mir nur Taschenbücehr leisten) hab ich noch, auf dem Cover ist so ein barockes Gekritzel "Wer Weiß Obs Waar ist" steht da, und barock muteten mich auch viele Sachen von HME an. Beispielsweise der Briefwechsel mit Hannah Arendt, wo man gleich merkt, wer von beiden die intelligentere Karte spielt. So was wie diesen Briefwechsel gibt es heute in deutscher Sprache gar nicht mehr, so mein Eindruck. Bei Untergang der Titanic hörte ich dann langsam auf, da war der Zauber irgendwie weg. Heute schreib ich mir die Gedichte selbst, gut, nicht wie Trakl und Co., aber als ich vor einigen Jahren nochmal zwei Enzensbergerbücher geschenkt bekam (Danke, Kumpel!) fand ich darin, dass er alle möglichen Schüttelreime auf bekannte deutsche Schriftsteller der Gegenwartsliteratur gemacht hatte, nur fehlte sein eigener Name. Heute, zum 85. Geburtstag von Hans Magnus Enzensberger, soll diese Lücke endlich ausgefüllt werden, sein Name wird zum Schüttelreim und seine hartnäckige Weigerung, sich ans Steuer eines PKWs zu setzen, mit dem Griffel der Muse in den Parnaß eingemeißelt werden, voilà und tusch:
Führerschein - zu Benzens Ärger -
hat er nicht, der Enzensberger.
Tags : Enzensberger, Lyrik, Führerschein
-
Commentaires
Ajouter un commentaire
Schreib ihm doch noch einmal, vielleicht freut er sich. Und wie ich das so tippe, denke ich mir, ich könnte doch auch mal einem Autoren schreiben, vielleicht Modiano. Schließlich war ich wohl die einzige, die ihn in der FNAC haben wollte.