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Gastautor Enzensberger
Von Franz Enzensberger.
(Beiblatt der Deutschen Roman-Zeitung Jg. 43.1, Nr. 13, 23.12.1905, S. 466)
Eben schlug die Turmuhr. Dreimal fielen ihre Schläge in das tiefe Schweigen, wie Gottes Donnerworte am jüngsten Tage an die Grüfte dröhnen werden. Durchdringlich, machtvoll, erschütternd. die drei Töne klangen wie gellender Schwerterschlag in die Totenruhe. Und die Dohlen flatterten heraus aus dem beschneiten Turm, umflogen ängstlich krächzend die Pfeiler und Krabben, die Gesimse und Nischen, die Steingitter und Wasserspeier und grauen Tierbilder, das ganze eherne Skelett des riesenhaften, mittelalterlichen Gottesgedankens. Wie ein Totengerippe lag es da - versteint; - übermächtig ragte es heraus aus dem Gewirr der kleinen erbärmlichen Häuschen, hob seinen breiten Rückebn über deren Dächer, und sein Kopf, der Turm, starrte in die Höhe, wie in einem gräßlichen Aufschrei zum Himmel, der lastend grau darüber lag.
Und wie ich ergriffen war von dem Uhrenschlag, da hörte ich ein feines Sausen und Schnurren. Es klang immer stärker und näher und lauter und lauter, und auf einmal, da donnerte und knackte und schwirrte und schmetterte und stampfte es, daß mir fast die Sinne schwanden.
Ich war dort, wo die Zeit geboren wird, und ging, ein winziger Zwerg, zitternd zwischen ungeheuren Maschinen, gigantischen Rädern, riesigen, sausenden Kolben und hörte die fliehende Zeit. Blitzschnell schoß sie dahin wie des Webers Schifflein und knüpfte Geschicke und zog die Fäden der Weltgeschichte. Dort brach einer und fiel hinab, da schossen neue herüber zu Tausenden und es war ein Binden und Lösen, ein Biegen, Schlingen und Brechen, daß mir die Augen überliefen und ich nichts mehr sah. Doch um so lauter hörte ich es schwirren und rauschen und surren und knirschen und es war mir, als wären Menschenstimmen darinnen; da ein Schrei, ein abgerissener, entsetzlicher Todesschrei, nun ein Seufzen, hinzitternd mit der fliehenden Seele, jetzt ein Gellen voll übermenschlich seliger Lust, wie wenn einem Liebenden die tote Braut rosig mit leuchtendem Leben entgegenspringt, dann ein Wimmern, daß mich ein Schauer durchrann, so unsäglich trostlos und grausam, und plötzlich, ganz nahe bei mir, ein gräßliches Röcheln, das mir den krampfenden Körper, zitternd und bebend, die verzerrten, zuckenden Züge, die überquellenden glasigen, irren Augen und die die Luft zerkrallenden Hände des Sterbenden zeigte.
Da auf einmal ein schriller, langgezogener Pfiff, hinsinkend in Schweigen, und alles war vorbei. Totenstille lag rings und darin wieder das Steinskelett. Die Dohlen saßen in langen Reihen wie schwarze Traumgespenster an den Gesimsen, die Pfeiler starrten tot in die graue Luft, die Krabben hockten wie schlafend an den Giebeln reihenweise, eine über der anderen, immer kleiner und kleiner erscheinend, hoch hinauf bis zur Spitze, wo die Giebelblume in die Wolken sah und ihre Blätter zum Unendlichen aufhob.
Es taute und die Tropfen fielen herab von Zacke zu Zacke, von Zinne zu Zinne, rollten über das Dach, tropften von der Rinne, schneller und schneller fallend, herab in stehende Wasserlachen.
Tags : Enzensberger, Turmuhr, Zeit
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