• Planet der Plakathasser

    Großbaustelle VorgebirgsgärtenDie Gegend, in der ich jetzt wohne, sieht rund ums Häuschen beschaulich aus. Grün vor allen Fenstern, Nadelbäume schirmen den Arbeitsplatz vor neugierigen Blicken ab; allenthalben Vorgärten, in denen sich Eichhörnchen tummeln, Schwärme von gefiederten Freunden fallen über unsere am Balkon aufgehängten Meisenknödel her, andere besuchen die Vogel-Drive-in-Loungesdes über uns wohnenden Ehepaars (ein niedlicher Begriff wie "-häuschen" passt dafür nicht mehr, da sind regelrechte Einflugschneisen drangezimmert)... Singvögel fühlen sich hier vor allem wohl wegen der Rückzugsgehölze auf einer eingezäunten Industriebrache, die zu zwei benachbarten Firmen für Chemie- und Schmierstoffe (keinerlei Lärm- oder Geruchsemission) gehört. Plakat aus der Fußball-WM-Zeit?Nur wenige Gehminuten entfernt tost der Verkehr auf dem Raderberggürtel, und schwarz und schweigend ragen die Hochhäuser von ehemals Deutscher Welle (heute eine leerstehende Asbesthölle) und Deutschlandfunk empor. Ich möchte auch gar nicht wissen, was unter der verkrauteten Wiese am altmodisch-gammeligen Ziegelbau der Chemiefabrik schlummert. Denn die Baugrube, die man jenseits des Gürtels ausgehoben hat, um eine neue genossenschaftliche Siedlung (mit dem euphemistischen Namen "Vorgebirgsgärten") zu errichten, entstand auf dem Gelände einer Farben- und Lackfabrik, da Handy-Werbung, abgerissenhat man jede Menge kontaminierter Erde wegkarren müssen. Übrigens hoffen wir hier auf baldige Bezugsfertigkeit der Siedlung (angekündigt für Herbst 2011), weil sich unsere Einkaufssituation mit den sicher ebenfalls neu entstehenden Konsummärkten verbessern, möglicherweise auch endlich das derzeit wegen Restaurierungsarbeiten geschlossene Zollstockbad neu eröffnet werden dürfte. Am Gürtel befinden sich mehrere Konsulate repräsentativer KfZ-Marken mit entsprechenden Parkplatz-Ländereien und architektonisch bizarren Vitrinenhäusern zum Anschauen und Preiseverhandeln (von der Nobelkarosse über Jeep-Geländewagen bis zum Biedermann-PKW ist hier alles zu haben). Bei uns im Innern des beschaulichen Raderthals merkt man gar nichts vom Großstadtgetriebe - außer Mittwochsblättchen und (samstags) bunten Fernsehprogrammprospekten in den nochmal die WaschanlageWaschanlage am RaderberggürtelBriefkästen. Aber es gibt z.B. kaum Graffiti, vielleicht, weil es eine neighbourhood watched area ist und jeder Lümmel, der mit einer Sprühflasche ertappt wird, sofort mit dem Klammerbeutel gepudert oder der Obrigkeit überstellt wird. Dafür toben sich die (jugendlichen?) Nihilisten auf dem vierspurigen Gürtel aus, wo sie zumindest nachts unbeobachtet sind - herannahende Streifenwagen kann man von weitem erkennen -, und hindern die freie Wirtschaft daran, uns glückseligmachende Produkte anzupreisen und damit via Binnennachfrage der Krise entgegenzuwirken. Jaguar-Skulptur auf der ZinneMerkwürdigerweise greift man fast nur Plakatwände an (parkende Speditions-LKWs, leider auch Bus-Wartehäuschen), nicht aber den springenden Feliden, der für den Boliden der einschlägigen Luxusmarke wirbt (wahrscheinlich ist das Firmenportal mit Videokameras gesichert). Er tut so, als wäre er massives Silber, besteht aber vermutlich doch nur aus poliertem Blech oder gar Plastikmüll. Er bleibt jedenfalls unbehelligt, was man von den stumm herumstehenden, die Landschaft verschandelnden Werbetafeln nicht sagen kann. Was mir an abgerissenen Plakaten gefällt, ist der künstlerische Effekt der Collage: Ist die obere Schicht weg, bleibt von den unteren was übrig und führt zu merkwürdigsten Parallelen, oder es entsteht ein fetzenhaftes Amalgam aus allem, was je darunter klebte, wobei für kundige Betrachter z.B. das Wort Deutschland kenntlich wird. Außerdem geben sich die Vandalen augenscheinlich viel Mühe, die Plakate unterschiedlich zu bearbeiten, mal werden sie wie eine altertümliche Schriftrolle von oben hHotline für Köln-TicketsBitte weiterblättern...eruntergezogen, mal wie ein Buch aufgeblättert, so dass aus der abgebildeten Dame, die junge Mütter ermahnt, während der Schwangerschaft keinen Alkohol zu trinken, eine fast dreidimensional im Raum platzierte Sitzriesin wird. Oft sieht auch der Untergrund der Plakate aufgeschlitzt oder, wenn Metall, wie blankgeputzt aus. Kurz und gut: mir gefällt diese täglich erneuerte Ausstellung einer sozialkritisch-hyperrealistischen, das Material der unmittelbaren Wirklichkeit verarbeitenden Gegenwartskunst in meiner Nachbarschaft, und ich werde bestimmt noch viel darüber berichten, auch noch über die Graffiti, von denen hier nur eins angedeutet werden soll, der auf das Mäuerchen über der Mr. Wash-Autowaschanlage gesprühte Imperativ "Putzen". - Viel Mühe hat man sich an der Vorgebirgsstraße gegeben. Da hat es nicht gereicht, das Plakat abzureißen oder es mit gesprühten ironischen Kommentaren, Filzschreiber-

    Vernagelte Plakatwand, Vorgebirgsstraße

    Farbakzenten oder dergleichen zu ergänzen: Da hat sich jemand richtig Mühe gegeben und die Bilder der Löwensenf-Reklame ungerührt & handwerklich einwandfrei mit Brettern vernagelt, vielleicht gar verschraubt. Waren es Fans des hinter der Wand angesiedelten Fußballclubs Fortuna Köln, denen der Gratis-Blick durchs Gebüsch auf die Spielfläche verbarrikadiert wurde? Für die werdende Mutter kein Gläschen in EhrenMich erinnert diese Handwerkskunst an die sogenannten "Bilderstürmer", deren Werk man in der Skulpturenabteilung des Doms zu Münster bewundern kann (im Kreuzgang zur Mahnung aufgestellt). Dort sind die vom Täuferregime Jan van Leydens "gestürmten" Heiligenbilder zu sehen: Ich glaube, es waren auch Heinrich Aldegrever und andere Meister der münsterländischen Schule daran beteiligt, als die Gesichter der Krisenherd oben rechts abgerissenpapistischen "Heiligen" säuberlich abgemeißelt wurden. Es dürfte Tage, wenn nicht Wochen gedauert haben, so dass die gängige Vorstellung von einem "Bildersturm" - wildgewordene Rabauken dringen mit Sensen und Dreschflegeln ein und schlagen alles zu Klump - wohl erheblich relativiert werden müsste. Besonnene, technisch versierte Leute waren hier am Werk, die mit Gründlichkeit, Geduld & Fleiß vorgingen. So, wie sie bearbeitet wurde, sieht die Werbefläche des Düsseldorfer Senfkonzerns aus, als sei sie der Zensur des Volkes unterworfen worden, das sich den Anblick phallischer Bratwürste im aufgerissenen Kindermund nicht länger zumuten lässt. Wie bei jeder Zensur konstituiert das Verschonte, erratisch Stehengebliebene, z. B. "Das ...erlebnis" und "mittelscharf" im neuen Kontext einen neuen Sinn. Aber welchen? Nun, das mag jeder Passant, wie bei jedem offenen Kunstwerk, selbst entscheiden.


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  • Commentaires

    1
    karinkornelia Profil de karinkornelia
    Vendredi 28 Janvier 2011 à 18:42

    Mit den phallischen Würsten hast du wohl recht, wie die Bilder dieser Löwensenf-Kampagne beweisen. Vielleicht schleicht Kardinal Meisner nachts durch Köln und verbrettert die anstößigen Stellen. Obwohl mittelscharf ja nicht richtig scharf ist.
    Bei den anderen Plakatwänden könnte auch einfach der Regen oder die Schwerkraft gewirkt haben.

    2
    hdorn
    Samedi 29 Janvier 2011 à 07:43

    Der  grüne Wurm auf Silberfläche ist sehr schön!

    Man sieht die Konsumweltverführer mit anderen Augen. Wie kommt es denn, dass eure Gegend zu einem Kunstplakatpardies wurde? Seid ihr etwas Konsumverweigerer, so dass die Werbefirmen keine Plakatkleber mehr schicken?

    3
    Petit Larousse Profil de Petit Larousse
    Samedi 29 Janvier 2011 à 17:08

    @karinkornelias link ist schon wurstmesserscharf. Und erst die Begründung! "Demnach sind auch leicht bekleidete Menschen zu sehen, allein, zu zweit oder zu dritt, was unterbewusst die Geselligkeit mit dem Senf und der jeweiligen Aktion verknüpft. Denn auch der allein abgebildeten Person sieht man an, dass sie nicht für sich ist und sich ausserhalb des Bildaufbaus jemand befindet, den sie anschaut und für den sie verführerisch in die Wurst beißt." Hat Melanie den Zuschlag nicht bekommen und aus Rache das Plakat genagelt? oder das sportliche Model auf dem Plakat ganz rechts musste das für sie machen. Ich esse jedenfalls Würstchen aller Art immer noch mit Messer und Gabel,  erst recht, wenn Senf drauf ist, der sonst schnell auf alles draufkleckert...

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    4
    Kornelia
    Dimanche 30 Janvier 2011 à 15:56

    Die Plakatcollagen gefallen mir auch sehr gut - auch profitiere ich davon. Aus den abgerissenen Fetzen Papier lassen sich wunderbar malerische Hintergründe für Scherenschnitt Silhouetten schneiden. Die Druckraster fließen zu Hintergrundverläufen in Horizont bzw. Mittelgrund zusammen - schöner rauer Effekt hinter zarten Konturen.



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