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Neue (NEUE, d. h. "neue"!) Musik
Wenn man nicht grade auf dem Land lebt, gibt's eigentlich immer in der Nähe irgendwelche Kulturangebote, bloß geht man nie hin. Wer selber gelegentlich zu Lesungen, Ausstellungen und dgl. einlädt, kennt das. Immer ist irgendwas anderes wichtiger. Selbst wenn es nix kostet, die Theaterkarten gleichzeitig für Busse und Bahnen gelten und man schon eine Ewigkeit nicht mehr in der Stadt war - gähn, irgendwie geht der Feierabend vor, und ein andermal ist ja auch noch Gelegenheit. Dabei sind die meisten Kunstmomente ausschließlich im Hier und Jetzt möglich, und wer nicht kommt & live dabei ist, kriegt das Beste nicht mit. Nehmen wir nur die Musik! Und da wollen die meisten auch nur, wenn schon, denn schon, ins Musicaldome oder zur Arena in Verona oder aufs Heavy-Metal-Festival nach Wacken (oder in den Film zur Musik) oder zu diesem TV-Kabarett-Heini hart an der Grenze, dessen Programm sie doch von Rundfunk und Fernsehen schon in- und auswenig kennen. Erlebt man auch bei Lieblingsfilmen: Manche Nachbarn bewegen die Lippen, weil sie den Text mitsprechen. Klar, keiner will als verschnarcht gelten, alle haben das neueste App auf dem Ultra-Smartphone. Aber wehe, jemand kommt ihnen mit sogenannten "Neutönern" (von Klingeltönen ist hier nicht die Rede), grusel, grusel! Wenn sie sich überhaupt mal in ein e-Musik-Konzert verirren, soll das schön Tschaikmozarthoven und Händelsohn-Bacholdy sein. Das allermodernste, was sie sich antun, ist vielleicht ein klitzekleiner Strawinsky, der muss aber auch schon zwischen zwei dicke Ohrwurmbrötchenhälften mit Klassikertunke gepackt werden, am besten gleich als zweites, oder drittes Stück (damit nicht alle schon bei den ersten Takten türenschlagend rauslaufen) und erst nach der Pause kommt der Promiteufelsgeiger mit der Punkfrisur und dem entzückenden Vier-Jahreszeiten-Vivaldi. Wie gut, dass es die GEMA gibt. Wenn die Leute, die über GEMA-Gebühren stöhnen, wüssten, WAS damit alles finanziert wird, sie würden sich noch vor dem Grabe rumdrehen bzw. freiwillig reinhopsen: z. B. Konzerte für (brrr!) zeitgenössische Musik! Aus einem besonderen Fond kann sich der Künstler, der es mit einer Komposition der Gegenwart aufnimmt, was abholen, um die Aufführung zu finanzieren! Dasselbe mit den Rundfunkgebühren, die GEZ-Kohle ist auch nicht nur dafür da, die Dienst-LKWs zu betanken, mit denen hochdotierte Intendanten tonnenschwere Ladungen von Bambis, Grimme- und Echo-Preisen zur Abwurfstelle transportieren, sie finanzieren damit auch, höret und staunet, Musik der Gegenwart! Selbst der Bundesbeauftragte für Kultur und Medien hat dafür eine offene Börse, und bezahlt mit den so dringend für die Bankenrettung benötigten Steuergroschen das atonale und unrhythmische Gefiepe, Gejaule und Getrommel.... Und weil das ja bekanntlich kein Mensch hören will außer ein paar Frequenztechnikern, bekifften Dadamaxen (die sich hierzulande gern mit einem fröhlich schallenden "Max Ernst!" verabschieden, worauf man mit "Max Bruch!" antworten muss) und sonstigen Wirrtuosen aus der Musikhochschule, locken Sender wie der Deutschlandfunk dann auch noch mit kostenlosem Eintritt, wie wir jetzt erfahren durften, sowie Gratis-Sekt, -Saft und -Kaffee in die Säle! So geschehen letzten Samstag im Raderberger Kammermusiksaal beim "Netzwerk Neue Musik" unter dem kryptischen, Außenstehende und Uneingeweihte von vornherein abschreckenden Slogan "08*n*n*m*11". Sollte das wohl heißen, es findet 2011 zum 8. Mal statt? Hier und in der Kunststation St. Peter gab es allerlei von Mauricio Kagel (das berühmte Zwei-Mann-Orchester, komponiert im Zeichen erster Einsparmaßnahmen als Auftragsarbeit zum Thema "Zukunft des Orchesters" für Donaueschingen), John Cage und Yannis Xenakis zu hören. Im Rathaus-Glockenturm ertönte am Samstag um 12 noch Karlheinz Stockhausens Tierkreis. 12 Melodien der Sternzeichen, aus dem mir mal die nette US-Flötistin und Stockhausen-Schülerin Camilla Hoitenga privat vorgespielt hat (eines der Tierkreise ist ihr gewidmet, wenn ich mich recht entsinne). Gut, alle drei Komponisten sind keine ganz unverbrauchten Schößlinge mehr, sondern gestandene Festmeter in der Baumschule der Klassischen Moderne. Aber trotzdem: "Der Eintritt zu allen Veranstaltungen ist frei. Die Plätze sind begrenzt - wir empfehlen frühzeitiges Erscheinen", haha! da lachen ja die Hühneraugen, so drohte man wie Kindern mit dem Zeigefinger auf den Flyern und Plakaten, aber außer uns zweien und waren grad noch fünf, sechs bebrillte pensionierte Alt-Existenzialisten (schwarzer Rollkragenpulli!) gekommen, die übrigen Enthusiasten hatten ihren Messestand im DLF-Foyer zu betreuen, kamen von der Redaktion der Zeitschrift für Instrumentenbau oder gehörten dem zahlreich aus Schleswig-Holstein erschienenen Orchesternachwuchs an, der gleich aufspielen sollte, nach der Podiumsdiskussion, die kaum beachtet im Hintergrund plärrte. (Aus Kiel war eine Playmobil-Ausstellung angereist, die Werke von Mauricio Kagel mit einer Straßenlandschaft, Autos, Fahrrädern, vielleicht auch Stuttgart-21-Demonstranten kombinierte.) Leider gab es, als alles saß, eine selbstverliebte Endlos-Laudatio des Redaktionszuständigen - man umhalste sich und übergab CD-Pakete - auf den mutmaßlichen "Macher" des Festivals, der daran erinnerte, wie man den Verein, der es veranstaltet, in einem schalldichten WDR-Konferenzraum gegründet habe, ich weiß es noch wie gestern, als zur selben Zeit das Sturmtief Kyrill das Gerüst vom Kölner Dom ins darunter liegende Dionysos-Mosaik krachen ließ, und jetzt, wo man sich im DLF treffe, wüte Sturmtief Joachim, aber der DLF-Turm stehe noch usw. usf. Aber irgendwann war das anekdotische Gesabber von Anno Dunnemals vorbei und konnte die "Jetztmusik" starten: Varèse & Boulez waren schon am Nachmittag drangewesen, man begann mit John Cagens Variations I, dann ein mir bisher ganz unbekannter Robert Krampe, der 1980 als Stipendiat der Villa Massimo geboren wurde (na schön, von John Cage weiß ich auch hauptsächlich, dass er mal für den WDR eine aleatorische Komposition nach den Ergebnissen seiner I-Ging-Stäbchenbefragung zusammengewürfelt hat), und dann wieder Cage: Konzert für Orchester und "präpariertes Klavier", was ich besonders liebe, weil wir das im Musiksaal unseres Gymnasiums auch immer gern gemacht haben, z. B. ein Plastiklineal in die Innereien des Flügels legen, um die Referendare zu schocken. Obwohl ich immerhin eingestehen muss, dass es nachträglich gesehen vielleicht ein Fehler war, sich durch entschlossenes Falsifizieren der Tonlage beim Vorsingen vor dem Schulchor zu drücken, immerhin gehört ein großer zeitgenössischer Komponist zu meinen Mitschülern, der heute gern mal in New York, London oder Peking dirigiert, er hieß so ähnlich wie Krawuttke, und mir fiel fast der Kitt aus der Brille, als es mal im Radio hieß, die Philharmoniker brächten nunmehr Werke von Beethoven, Rachmaninoff und Klauspeter Krawuttke zu Gehör... so weit hab ich es als Bänkelsänger nicht gebracht. Nun aber dirigierte mit schwungvoller Gestik ein Mensch namens Johannes Harneit das ca. 25köpfige LandesJugendEnsemble Neue Musik (die schreiben das so, mit den unvermittelt das Wort aufsperrenden Großbuchstaben), und der ließ die Quietsch-, Jaul- und Blubbertöne und perkussiven Knaller wie mit Zauberhand herauswachsen aus vielen Instrumenten. Wobei das Stück von Krampe (Thoughts about ChAnGEs), vermutlich als hommage in den Tonarten "C A G E", eben nicht dirigiert wurde und daher besonders anspruchsvoll war, denn die Musiker sollten möglichst zwanglos auf der Bühne herumlümmeln und ihre Einsätze kamen dann ziemlich unvermittelt, man guckte sich so um und zack, schon war mit "plidderdamplom" die Harfe, "dremmeldibumm Klickboms" das Schlagzeug oder "bröööööööööötz" mal wieder die Basstuba an der Reihe. Im Cage-Finale wurden zwei weiche Bleche hochgehalten, wie sie sonst der Theaterdonnerer zu brauchen pflegt: wudel-wudel-brommelbrommelBROMM!, das fiel sehr ins Ohr. Mit Inbrunst bearbeitete hierzu Solistin Ninon Gloger die Klaviatur, doch statt perlender Brillianz kamen, dank präparierter Saiten, nur mehr gequälte, stumpfe Ächzer aus dem Flügelkasten. Und die hübsche Harfenistin mit dem langen Haar hätte sicher lieber melodische Weisen gezimbelt, anstatt nur ab und zu mit der Hand hineingreifen und "twäng" machen zu dürfen. (Warum hab ich eigentlich noch nie eine geschorene Harfenistin mit Irokesenbürste gesehen? Wegen Pentangle: "They took three locks of her yellow hair, / Lay the bairn tae the bonnie broom, /And wi' them strung that harp so rare..."?) Aber alles in allem war es sehr angenehm zu hören, wirklich. Ein bißchen wie Strecken und Recken nach langer Bettlägerigkeit: Ungewohnte Klänge im Ohr sind auch ein Genuß! Die seltsamsten Fiorituren und unvermutete Konsonanzen... Kaum zu glauben, dass das alles streng nach Noten in der Partitur stehen soll. Bei den letzten Variations von Cage vor der Pause wurde mir wohl etwas zu meditativ zumute, da duselte ich im Zuschauersessel ein - das passiert mir, sei's Tosca, sei'sTraviata, selbst in den schicksalhaft-tragischsten Opern - und schmatzte selig und satt (war wohl der Schampus, der mir noch auf den Lippen lag), bis meine Frau mich mit dem Ellbogen anstieß, ansonsten blieb ich aufmerksam und konzentriert sitzen, hatte richtig Spaß an der Sache und nicht die mindeste Neigung, türenschlagend aus dem Saal zu stürmen.
Die Musiker waren jedenfalls mit Feuereifer und rührendem Ernst bei der Sache, handhabten ihre wunderschönen Instrumente mit der jungen Menschen nun mal eigenen und eine Zeitlang fast unveräußerlichen Grazie und, wie meine Mutter immer sagte: "Was man mit Butter und Eiern verdirbt, das kann man immer noch essen!" Dieser Satz scheint mir vollumfänglich auch für die Neue Musik zu gelten. Und dann auch noch bei freiem Eintritt und mit Gratissekt - das lassen wir uns nicht mehr zweimal sagen!
Tags : netzwerk neue musik, nachwuchs, festival, deutschlandfunk, john cage, varèse, boulez, krampe
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Die ernsthaften jungen Menschen arbeiteten an Ihren Instrumenten rührend konzentriert, einzelne Klangkompositionen aus - große Bühne. Diese schöne Anspannung kam bei mir ganz meditativ und beruhigend an - in der 'ersten Reihe' entbeschleunigte Musik genossen.