• Kleinster Karneval der Welt

    DollarpiratinJa Moment, wat is datt dann? Eine nett kostümierte Piratin mit Dollarzeichen in den Augen, okay. Da werden aufstrebende Politiker aus kleinen, durchaus nicht mehr ganz harmlosen Jung-Parteien durch den Kakao gezogen. Aber neben ihr, der Typ da: Geht da einer als SDS - Sozialistischer deutscher Studentenbund? Passen täte es zum Karneval dieses Jahres, denn "Alle reden vom Wetter. Wir nicht." StraßenschildAber das SDS meint hier ausnahmsweise kein politisches Kürzel, sondern ist die griffige Bezeichnung für die Schultze-Delitzsch-Straße, die in unserer Gegend ein besonders interessantes 'Soziotop' ausmacht. Schon im vorigen Jahr fiel einem hier der kleinste Karnevalszug der Welt auf - der geht nämlich nur die eine, unspektakulär kurze Straße lang. Die hat allerdings einige recht hübsche genossenschaftliche Ein- bis Zweifamilien-Häuser aus der Werkbundepoche, so um 1905 erbaut, und man feiert hier gern zusammen, veranstaltet Kinderflohmärkte und proklamiert im Karneval sogar ein eigenes Prinzenpaar - was die Kölner können, können die Raderthaler schon lange bzw. seit vorigem Jahr auch. In dieser Saison gibt's es ein neues Dreigestirn. Diesmal wurde der Burgherr zum Prinzen gemacht.Imbissbude in Raderthal Der Imbisswirt des "Happy Happi" von der Markusstraße Ecke Schultze-Delitzsch (bzw., weil es für einen Nichtpreußen ja auch schwer auszusprechen ist, Ecke SDS) hatte im letzten Jahr seine Frittenbude, wo er sonst die gestresste Jugend der nahe gelegenen Europaschule verköstigt, zur "Residenz" erklären lassen. Heuer ist er selbst Prinz Maki I., ein echter Grieche mit ungebrochenem Selbstbewußtsein ("Ich bin en Grieche un' dunn nit kriesche", reimte er in seiner ersten Ansprache, wobei kriesche nicht "kriechen" heißt). Leider habe ich den kürzesten Veedelszoch (der sich allerdings mit dem Raderthaler Veedelszug zusammentat, um die Straße abzumarschieren) schon wieder verpasst, weil wir den Karneval bei Schwiegerelterns und Schwägern/innen ebenfalls sehen wollten, da geht der Zug fast zeitgleich und es ist hoch im Norden. Aber bei der Prinzenproklamation in der Schultze-Delitzsch-Straße waren wir dabei, und da wurde nicht nur geredet, sondern auch das Tanzbein geschwungen,Imbiss an der Markusstraße und zwar mit einem zünftigen Sirtaki von Prinz, Bauer und Jungfrau - da paßte der Männertanz natürlich richtig, denn die Jungfrau (in diesem Fall hieß sie Jupp) ist im rheinischen Karnevalsgeschehen traditionell ein Mann. Der Happy-Happi-Imbiss blieb übrigens die ganze Zeit offen, Makis Frau versorgte die Frittenhungrigen, während ihr Mann sich von der erschienenen Weltpresse fotographieren ließ. Schulzestraße würde übrigens ausreichen, der Mann hieß nur Delitzsch, weil er in diesem Ort geboren wurde (als Bürgermeisterssohn) und setzte den Ortsnamen dazu wie Hoffmann von Fallersleben oder der von Loriot erfundene Müller-Lüdenscheid. Schließlich wollte Proklamation des Dreigestirnssich Schultze-Delitzsch von anderen Politikern dieses Namens - er wurde in die Preußische Nationalversammlung gewählt - unterscheiden. Da die meisten Gebäude in unserem Viertel irgendwelchen Genossenschaften gehören, ist es naheliegend, wenigstens eine Straße nach dem Gründer des Genossenschaftswesens zu benennen. Er hat schon in Delitzsch und später in Berlin sein Leben lang Konsum- und Sparvereine und Produktionsgenossenschaften propagiert, ein Versuch, die Versorgungsprobleme angesichts der Massenzuwanderung der land- und mittellosen Arbeiterfamilien zu lösen. Der Gedanke, der dahintersteckte, war "Hilfe zur Selbsthilfe", nicht auf den Staat solle man sich verlassen, sondern eigenständige Vereine gründen, die für ihre Anteilseigner und Einzahler billiger Einkaufen, Häuser bauen oder Spargelder investieren konnten. Ferdinand Lassalle hat ihn wegen seiner Ablehnung der Staatshilfe als "Manchester-Mann" bekämpft, und tatsächlich war HDS sicher kein Sozialist oder Kommunist. Immerhin aber er ein Wirtschaftstheoretiker, der die Probleme ernst nahm,Kleinster Karneval der Welt wie eine Meldung der Neuen Preußischen Zeitung (auch "Kreuzzeitung" genannt, ultra-reaktionäres Monarchistenblatt in Berlin), zeigt (Nr. 55 vom 5. August 1864):Handytelefonieren im Karneval "Herr Schulze-Delitzsch hatte den Handwerkerverein aufgefordert, eine Tabelle der hier üblichen Lohnsätze der Arbeiter und Handwerksgehülfen nach einem bestimmten Schema auszufüllen. Nach den bisher ermittelten Resultaten haben den höchsten Erwerb unter den Arbeitern die Fuhrwerkführer, monatlich 36-44 Thlr., die Steinträger, die nur im Accord arbeiten, 36 Thlr., doch haben sie häufig Nichts zu thun und oft eine Tagesarbeit von 16 Stunden und darüber. Die Berschäftigung und Löhnung der Getreideträger ist zu ungleich, als daß irgend ein auch nur annähernder Satz sich angeben ließe. In den Zuckerfabriken und Färbereien besteht das Abkommen, daß der Arbeiter bei bei 12stündiger Arbeit, die auch Nachts eintreten kann, mit mit 13 Thlr. beginnt und von 2 zu 2 Jahren um 1 Thlr. gesteigert wird bis zur Höhe von 25 Thlrn., welche die sogenannten Meister beziehen. Frauen verdienen in Färbereien, in Kattun- und Tabacksfabriken, wo sie als Wickelmacherinnen arbeiten, zwischen 6 und 10 Thlr., Kinder (14 bis 16 Jahre alt) zwischen 4-6 Thlr., werden aber nur in Kattunfabriken beschäftigt. Sackträger verdienen im Durchschnitt 24 Thlr. Arbeiter bei Mauer- und Zimmerarbeiten, und auch nur im Sommer, 14 Thlr., Cigarrenmacher 12-14 Thler., aber nur im Accord."

    Verkleidet: Neffe und NichteHeimersdorfer VerwandtschaftAber wir wollten ja nicht von der Arbeit reden, sondern vom Gegenteil, vom rheinischen Karneval, der aber, jedenfalls wie ich ihn manchmal erlebe, weniger mit Häme, Humorigkeit und Humtata zu tun hat, sondern - glaubt's mir oder nicht - mit tiefer Melancholie und Trauer um das Vergebliche. Man hört es manchen Liedern an. Aber die Leute singen nicht mehr so viel, im Norden, wo wir den Umzug mit Familienanschluss erlebten, fast gar nicht, meine Schwiegermama sang ein bißchen mir mir, ansonsten plärrten Brings aus dem Lautsprecher und das war's. Der den Lautsprecher in seinen Kofferraum Kostümidee für Tatzengestellt hatte, war übrigens, wie meine Liebste mir sagte, "der Nachbarsjunge", als ich ihn dann sah und grüßte, war er auch schon fast fünfzig wenn nicht drüber! Doch, einmal spielten die Spielmannszüge "wenn dat Trömmelche jeht, dann sinn mer all parat", da sangen ein paar mehr Leute mit. Ansonsten sahen wir hübsch kostümierte Kinder: als Frösche, Tiger, Maikäfer (eine ganze Familie davon), weitere Verkleidungen als Prinzessinnen, Derwische, Schneemann und sogar als Kameramann, wozu aber hauptsächlich nur die vom anderen, in Dresden studierenden Neffen gebastelte Pappkamera herhielt. Cowgirl und RaubkatzenDie haben dann abwechselnd die Eltern und ich getragen, weil der Junge ja schwer an einer Stofftasche mit Süßigkeiten schleppte. Die wurden massenhaft geworfen, - das geht hier anders zu als in Kleve, wo, wie ich grade telefonisch erfuhr, die Kinder an den Türen betteln müssen, hierzulande kommt der Prunkzug vor ihre Haustür und wirft die Goodies massenhaft herunter! (den Kleinsten, wenn sie ganz vorn stehen, stecken die kostümierten Fußtruppen das Zeug gleich in die aufgehaltenen Tüten.)Kleinster Karneval der Welt Und alle Anrainer und Umstehenden bückten sich nach zuckrigen Lutschern, Popcorntüten, Billigschokolade, die im Hals kratzt, nach dicken Kamelle werden geschmissenharten Kaugummis, bunten Billigbonbons, Gummibärchen (ein Neffe ging als blaues Gummibärchen, ich hab das Kostüm aber nicht erkannt) und anderem Kram, einzig eine Schachtel Mon Chérie und ein Lebkuchenherz mit der Aufschrift "Hab dich lieb!" stach aus diesem Pfennigsangebot heraus und waren etwas hochpreisiger und begehrenswerter. Ich knöpfte meinem kamerascheuen Neffen für's Tragen auch noch ein "Strüßjer" ab, das ich meiner Frau schenkte. Ach ja, in der Schulze-Delitzsch-Straße fand ich 2x Glückspfennige, noch bevor der Zug losgegangen war: ein 2-Cent- und ein 1-Cent-Stück! Geld brauchten wir übrigens nicht, da es nichts zu kaufen gab; an Büdchen vor den Türen der SDS hätte man mit Bons Liedtexte in Fotokopie und Kölsch erwerben können, in Heimersdorf hatte jemand Kölsch in Flaschen besorgt, das offenbar neuerdings eine geographische Herkunftsgarantie mit einem Qualitätssiegel besiegelt. An den Kostümen fiel mir ins Auge, dass recht geschickte Kostümschneider nicht nur Raubkatzenfelle nachahmten, sondern auch entsprechende Tatzen aus Handschuhen genäht hatten, die man über das Schuhwerk legen Karnevalskostümekann - richtig gute Idee! Von den Zug-Gruppen waren übrigens die "Verliebt in Kölle" die schönsten, Moderne Bierflaschen-Tüvsiegeldie hatten eine stilisierte goldene Hohenzollernbrücke im Haar und waren über und über mit Pappschlössern behängt, die versuche ich morgen zu fotografieren. Meine Kamellen-Funde hatte ich an die Kinder abgegeben, da ich kein Biertrinker bin, war ich stocknüchtern, eine Käsesuppe verursachte bei mir Magendrücken und Laktose-Unverträglichkeit bei meiner Frau, und hundemüde war ich auch. So war alles in allem unser erster Karnevalstag in diesem Jahr beschaulich, das Vergnügen übersichtlich, das Wetter zwar nicht regnerisch, aber nicht grade warm, aber die Stimmung okay und das Veedel, in dem wir wohnen, auch zur Humba-täterä-Saison richtig angenehm. Im nächsten Jahr aber will ich wirklich den kleinsten Veedelszug in unserem Viertel sehen!


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  • Commentaires

    1
    Kornelia
    Samedi 18 Février 2012 à 22:12

    Das ist Karneval, wie ich Ihn liebe. Die kleine, nicht aufgeregte eher leise Art. In der Schultze-Delitzsch-Straße war die Lifemusik besonders schön , ein guter Sänger, Ziehamonika und ein Mikro für die Ansagen und Überleitungen. In den letzten Jahren gibt es in Köln eine immer beliebter werdende Singebewegung http://www.lossmersinge.de/ - das passt.

    Auch im vorörtlichen Zug gehen Bands mit, aber für die Zusschauer ist die Musik immer nur im Vorbeigehen angespielt, schnell verflogen.

    Entspannte karnevalistische Grüße aus Kölle von Kornelia

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    2
    karinkornelia Profil de karinkornelia
    Lundi 20 Février 2012 à 11:51

    Ja, in Kleve und übrigens auch in Bocholt singen die Kinder an den Türen zu Karneval, aber Kammelle gibt es trotzdem, denn auch dort haben wir Züge. Mit Multikulti, denn zumindest in Kleve ziehen auch holländische Wagen mit. 


    Aaaaber: Zu St. Martin müssen die Kinder hier nicht betteln gehen, da gibt es wohlgefüllte Tüten!



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