• Jerusalem der Künstler

    Ach ja, ich hatte noch die Auflösung des Rätsels versprochen: auf der Zeichnung ist mein Großvater zu sehen, den der britische Ex-Premier Winston Spencer C. karikiert hat - acht Jahre, bevor ihm (Winston) der Literaturnobelpreis zugesprochen wurde. Für Malerei gibt es noch keinen Nobelpreis und, nun ja, ihm den Friedensnobelpreis zu verleihen, das erschien wohl selbst dem Nobelkomitee vielleicht doch einen Tick zu zynisch, immerhin hat Alfred Nobel das Pulver erfunden, Churchill das damit zu verübende Flächenbombardement (die "Effizienz" ist zuvor auf einem Versuchsgelände mit in Kellerräumen angebundenen Ziegen getestet worden). Der Dynamitbaron wollte sich durch die Förderung des Friedensgedankens in der Welt quasi entschuldigen. Versuch, La Ruche zu fotografierenHingegen Churchill, der fand sein "immer feste druff" wohl bis in sein letztes Sterbensstündchen noch richtig und gut so. Dass er Hitler und die entfesselten Deutschen besiegt hat, das dankte ihm die Völkergemeinschaft, nicht der britische Wähler, der ihn abservierte, kaum dass die MGs kalt geworden waren. Und dass er meinen Großvater zeichnete, dankte dieser ihm durch ein Gegenporträt, an der Staffelei sitzend, im Baskenland, an der französischen Atlantikküste. Diese Zeichnung ist mir übrigens gestern zugegangen, allerdings nur als Ausdruck von Mikrofilm, mit Archivstempel, auf gelbes Papier. Der Mikrofilm lag in Cambridge. Wo das Original ist - in einer Kladde mit Fotos aus dem Urlaub, den Churchill unmittelbar nach seiner Nichtwiederwahl antrat (später wurde er kurzzeitig nochmal gewählt) - , das ist nun die Frage. Und wie es mein Großvater geschafft hat, sich unmittelbar nach Kriegsende aus Holland, wohin er (als seine Heimatstadt und mit ihr drei Ateliers in Trümmern lagen) evakuiert war, über Denkmal für Otto Freundlichdie grüne Grenze nach Hendaye zu verdrücken, wo er beim Pleinairmalen auf den Politiker traf, das wird vermutlich ein Geheimnis bleiben. Spanien war seine zweite Heimat - Frankreich sowieso -, hatte er doch 1911 und 1913 als einziger Deutscher im Pariser Salon ausgestellt und in La Ruche gewohnt, einer Art Containerdorf, das der Bildhauer Alfred Boucher 1902 aus dem stählernen Sperrmüll gewesener Weltausstellungen errichtet hatte. Boucher vermietete sie billig an arme Künstler, beispielsweise wohnten hier Chagall, Léger, Zadkine und Robert Delaunay, ein Maler, der meinen Großvater sehr beeinflusst hat. Verheiratet war Delaunay seit 1910 mit Sonja Stern, die von 1903 bis 1905 in Karlsruhe studiert hatte. In Spanien lernte sie übrigens 1914 den Tänzer Diaghilev kennen, für den sie Kostüme entwarf. Sie starb erst 1979 in Paris, und wäre ich damals nicht so unwissend gewesen, ich hätte sie gut noch mal nach meinem Großvater fragen können, der mit dem Ehepaar Delaunay und anderen Drückebergern von Quatorze-dix-huit in Barcelona und Madrid weilte und sich dem Gestellungsbefehl widersetzte. Angeblich stieg er in den Zug, wie das Konsulat es befahl, und stieg auf der anderen Seite wieder aus (damals hatten die Züge beidseitig Türen). Und der Typ, der den Ersten weit vom Schuss in Spanien verbummelte, trifft also nach dem Zweiten Weltkrieg, das ein noch viel größeres Völkerschlachten mit sich gebracht hatte, den Burenschlächter, Bombenkrieger, Panzerwagen-Erfinder usw., einen Hobbymaler, dessen Kriegskunst dem Profi-Kollegen das Lebenswerk gekostet hat, und da unterhalten sich die beiden älteren Herren vor ihren Staffeleien locker pfeife- bzw. zigarrerauchend an der Atlantikküste über Zeichenkohle, Farbkontraste und Pinselqualitäten, und schwupps, vereinbaren sie, dass einer den anderen auf den Zeichenblock abkonterfeit...? Wenn das keine Story ist, weiß ich es nicht. Jerusalem der KünstlerAber zurück nach Paris und ins La Ruche, das vergessene und von Touristen meist übersehene Künstlerviertel unweit vom Espace Georges Brassens, einem Park, wo allsonntäglich Bücherflohmarkt stattfindet. - Berühmt ist allenfalls die Rotunde von Gustave Eiffel, aber die drumherum errichteten Schlichtbauten, die heute dem Verfall entgegenrosten (obwohl der Abriss vor einigen Jahren verhindert wurde, heute kümmert sich eine Stiftung um dieses Gelände, das allerdings trotzdem stark nach künftigem Baugrund für Immobilienspekulanten aussieht), sind viel authentischer als Künstlerwohnanlage, auf jeden Fall anschaulicher und minder pittoresk als die Ansichtskartenbohème des Montmartre, wohin die Touristen in Scharen pilgern, weil Picasso mal da gewohnt hat. (Picasso? Dem hat Arno Breker das Modell ausgespannt. Oder war es mein Großvater, der Breker, seinem einstigen Kommilitonen an der Werkkunstschule das Modell ausgespannt hat? Flüchtige Anekdoten und unbewiesene Gerüchte sind alles, was ich zu fassen kriege. Tatsache ist: zur Zeit der NS-Diktatur hatte Breker Hochkonjunktur, Otto F. Reise- und damit prakSchwimmbad im Haustisch Berufsverbot, seine "entarteten" Bildwerke hatte man schon aus den Museen entfernt, und sie sind nie wieder aufgetaucht.) In Bouchers Künstlerasyl an der Rue Dantzig, vor dem Ersten Weltkrieg, kostete die Miete notfalls gar nichts, und die englische Wikipedia orakelt düster: "As well as to artists, La Ruche became a home to the usual array of drunks, misfits, and almost every penniless soul needing a roof over their head." Als am Montmartre dann irgendwann mal das Bateau-Lavoir abbrannte, vielleicht weil auf den Bildern von Braque zuviel geraucht wurde, zogen deren Bewohner auch in den Künstlerbienenkorb. An beiden Orten gewohnt haben angeblich Max Jacob und Modigliani. Und auch am Montmartre gab es einen Otto: Otto Freundlich aus Stolp in Pommern, der später in einem Pyrenäendorf, wo er untergetaucht war, von den Deutschen verhaftet, deportiert und in Majdanek grausam ermordet wurde. - Von La Ruche wird später an dieser Stelle mehr zu sehen sein (wenn die Fotos gescannt sind), aber von unserem Kurzausflug nach Paris wollte ich erst noch weitererzählen. Ein historischer Spaziergang durch das Marais, wie wir ihn im Sommer unter kundiger Führung meiner Liebsten unternahmen, führte unweigerlich auch in das jüdische Paris. Das Restaurant Goldenberg, in dem 1982 der schreckliche Terroranschlag stattfand, gibt es nicht mehr, inzwischen ist dort eine Kleiderboutique. Eine Gedenktafel erinnert an dieses Ereignis, bei dem sechs arglose Restaurantbesucher starben und über zwanzig verletzt wurden. Pizzeria im MaraisAber hebräisch gedruckte Bücher und koschere Pizza ("gibt es die denn?" fragten unsere Freunde, und wir brauchten nur auf den nächstliegenden Gourmettempel zu verweisen)Laden in der rue des Archives kann man in diesem Viertel immer noch haben, auch wenn der Librairiste offenbar lieber die mit Belag aus Mortadella und Rohmilchkäse per Expressmotorrad von "La Regatta" liefern lässt (oder gar Sushi - mit Meerestieren ohne Flosse und Schuppen!). Wir besichtigten das "La Pletzl" und fanden auch ein Haus, dessen Fassadenbeschriftung offenbar im 19. Jahrhundert schon piscine und Sauna verhieß - Wellness pur. Natürlich haben wir auch den Laden mit speziellen Süßigkeiten, Hochzeitstorten etc. nicht übersehen, sind aber mit Rücksicht auf die schlanke Linie nicht reingegangen, das Angebot wäre zu verlockend gewesen. Statt dessen wandten wir uns den wenigen mittelalterlich zu nennenden Bauten und der "rue des Archives" zu. Gegen das "Haus der Geschichte", das Sarkozy plant, habe ich mich in einer Protestliste eingetragen.Rue des Archives in Paris Darin sollen alle Archive zentralisiert werden, eins dieser Präsidentenprojekte, mit dem man sich einen unsterblichen Namen erwirbt. Wir wissen ja in Köln, was passieren kann, wenn zuviel wertvolles Archivgut an einem Ort lagert. Aber hab ich mir die Zeit genommen, mal ins Archiv reinzugehen und mir ein paar Quellen zur Künstlerkolonie oder wenigstens zum spanischen Exil der Delaunays anzuschauen? Mitnichten. Vielleicht fände ich in Madrid ein paar alte Zeitungen von 14-18, in denen der Großvater Karikaturen veröffentlicht hat, dann könnte ich den Porträtisten des mir jetzt endlich vorliegenden, im Juli 1945 nach seiner Abdankung gezeichneten Churchill noch besser identifizieren, denn die Urheberschaft der (nicht signierten) Skizze aus dem Churchill Heritage Fund wird letztlich nie vollends beweisbar sein, ebensowenig wie die der gerahmten Kulizeichnung an meiner Wand.


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