• Bössere finden in heuropa???

    Wir schreiben das Jahr 2010, für die Welt das Internationale Jahr der Biodiversität, für Europa das Europäische Jahr der indigenen Völker, für die christlichen Kirchen und Organisationen das Jahr der Stille und für zu Hause das Jahr der Hausgeburt. Bloß hier im Allgäu feiern wir das Internationale Karl Joseph Riepp Jahr, aber nicht nur in Ottobeuren, sondern auch in Eldern und Salem, in Besançon und Karlsruhe, in Bordeaux und Dijon. Es gibt Orgelreisen zum 300jährigen Geburtstag, Symposien, Konzerte und Lichtbildervorträge über sein Wirken in der Bourgogne mit anschließendem Glas Wein. Der 1710 als Mesnerssohn zu Eldern geborene Meister brachte es nämlich auch als Weinhändler zu erheblichem Wohlstand, das war sein zweites Standbein neben der Orgelbaukunst - in Salem baute er die mit 125 Registern auf vier Orgelwerken weltweit größte Anlage seiner Zeit, und - seltener Glücksfall - die beiden Chororgeln in der Basilika des Benediktinerklosters zu Ottobeuren, 10 km von hier, blieben seit  dem Bau 1754-1766 weitgehend unverändert. "...in der That aber sein Sie gestimbt und intonirt", äußerte der Konstrukteur über sein Werk, "wan man Bössere findet in heurope, will ich nour hänsle haissen." Er hieß aber weiterhin Karl, nach 1747 sicher auch Charles, nämlich in der Urkunde über das französische Staatsbürgerrecht, das ihm Ludwig XV. verlieh. Gehört haben wir seine Orgel noch nicht, aber das Klostermuseum von Ottobeuren zeigt sein Porträt sowie das seines Bruders Rupert, der ebenfalls Franzose wurde.

    Nach dem Crash...Denn nach sonnigem Vormittag, von Kornelia für eine Southic-Walking-Tour genutzt, mit anschließendem Zirkeltraining auf den nagelneuen Spielgeräten im grünen Tal von Grönenbach plus Kneippschem Fußbad, zog sich der Himmel leider wieder zu und schüttete Gießkannen mit Regenwasser aus. Um uns nicht im Book Crossing Point mit irene Dische, Jean-Paul Sartre, Axel Hacke und Pascal Mercier herumzuöden, rafften wir uns trotz Muskelkater von gestern auf und fuhren ins benachbarte Ottobeuren. Das 764 gegründete Kloster ist praktisch zweigeteilt und steht daher aks einziges im Süden Deutschlands für Besucher offen, man darf richtig rein, ohne Anmeldung am Aquarium des Pförtners vorbei, bei freiem Eintritt (außer im Museumsbereich), kann sich in aller Ruhe umgucken, zum Beispiel in die nebenstehenden Flure wandern, die an die Uffizien erinnern und wo nicht bloß Heilige, Evangelisten und Kirchenväter, sondern auch Bacchus und Minerva, Fortuna und Julian Apostata abkonterfeit sind. Das Kloster mit seiner Basilika ist schon von außen eine eindrucksvolle Erscheinung, wegen der hübschen Farbgebung der "Scheinarchitektur" auf den Mauern: was anderswo Granitblöcke zuwege bringen, ist hier auf die Fassade gemalt, und das setzt sich auch im Innern fort. Der Ostteil des Klosters gehört den Mönchen, der Westteil diente der Verwaltung der weltlichen Güter - das sog. Reichsstift beherrschte außer Ottobeuren 27 Dörfer in der Nachbarschaft. In der Chronik der Benediktinerabtei findet sich das denkwürdige Datum 1212, da heißt es: "Die Schutzvogtei gelangt nach dem Tod des Markgrafen Berthold von Ronsberg an Graf Gottfried von Marstetten. Das Kloster erzwingt die Übergabe an Kaiser Friedrich II." - Von diesem Marstetten heißt es in einer Allgäuer Heimat-Webseite: " Derselbe Graf Gottfried ...mußte aber, um diese Vogtei zu behaupten, diesem Kloster 1213 den beträchtlichen Weiler Helchenried bei Mindelheim abtreten..." Die Möche waren entschlussfreudige Manager, wie es scheint. Als reichsunmittelbares Kloster hatten sie einen reichen Reliquienfundus, der aus Köln stammte, und verteilten die gnadenbringenden Knöchelchen an 77 Orte in Schwaben; sie gründeten eine Druckerei, die der Humanist Nikolaus Ellenbogen leitete, wurden 1541 eine "Öffentliche Lehranstalt für orientalische Sprachen" und kurzzeitig 1543/44 eine Schwäbische Benediktiner-Universität ("verlegt nach Elchingen und untergegangen im Schmalkaldischen Krieg") und gründeten eine solche 1622 in Salzburg, später exportierten die hiesigen Benediktiner auch Gründungen in Vorarlberg und Liechtenstein. Unter Abt Rupert II. Ness wurde 1721 der Bau in heutiger Gestalt vollendet. Die drei P notierte der Abt am 10. Juni 1727: "Pecunia, patientia, prudentia", Geld, Geduld und Klugheit seien die drei Elemente, mit welchen man bauen muss.

    Nachdem auch hier 1803 die Bayern für die "Aufhebung und Enteignung des Reichsstiftes" gesorgt hatten ("1806 wurde der Kaisersaal mit Kriegsgefangenen belegt und schwer beschädigt. Die im Kloster zurückgebliebenen Mönche versuchten zu retten und zu erhalten, was möglich war"), bemühte man sich beim Wiener Kongress vergebens um die Wiederherstellung, erst 1834 unter König Ludwig I. konnten erstmals wieder, allerdings nur als "abhängiges Priorat der Abtei St. Stephan - Augsburg" Mönche hier ansiedeln (heute sind es 22), das Museum wurde 1881 eröffnet.

    Nach dem Crash...

    Im Museum sahen wir dann zahlreiche Kunstschätze, teils Originale, die aus der Basilika stammten, teils Sammelgut, teils Leihgaben aus den Staatlichen Galerien Bayerns, schöne mittelalterliche Sachen aus dem Fundus sozusagen. Dann die Prunk- und Empfangszimmer des Fürstabtes, der keinen Luxus scheute, um den weltlichen Machthabern demonstrativen Konsum vorzuleben, aber auch ein nettes Apothekerschränkchen ebenfalls mit aufgemalter "Scheinarchitektur". Von Nikolaus Ellenbogen aus Biberach, einem Humanisten "trilingius" (Hebräisch, Griechisch und Latein beherrschend) erfuhren wir, daß er mit Erasmus und Reuchlin im Briefwechsel stand und - dem Vorbild seines Vaters Ulrich folgend - Medizin in Krakau, Montpellier und Heidelberg studiert hatte. Den 18. März 1481 geboren, wirkte er von 1504 bis 1543 in dem Kloster Ottobeuren und gründete neben der Lehranstalt für Orientalistik auch die Druckerei, die "Officina Ottinpurrhana", die allerdings 1525 vom aufständischen Memminger Bauernhaufen bei der Plünderung des Klosters zerstört worden ist. Kein Wunder, denn aus dieser Druckerei gingen keine reformatorischen Schriften hervor, wenn auch die Klosterbibliothek mit der Mineravgestalt in der Mitte ein Exemplar von Luthers Thesen aufbewahrt. Bei der Plünderung gingen neben Vorarbeiten zu einer Ausgabe der medizinischen Schriften seines Vaters auch viele Ellenbogenschen Briefe zugrunde, einen Teil bewahrt die Colbertinische Bibliothek in Paris auf. "Lese und sei stark!" riet Nikolaus Ellenbogen in einem seiner Ad-lectorem-Vorworte. In dem ihm gewidmeten Teil des Museums sahen wir gerahmte Einblattdrucke mit Spitzkolumnen, die offenbar als Hilfe beim Beten dienten:

    EXHORTATIO
    vt non sina gratia
    sumactione ad
    mensam acce
    damus aut
    ab ea sur
    gam.

    (Eine Erinnerung, nicht ohne Tischgebet an den Esstisch zu treten)

    NI
    HIL
    dei fer
    uis odiosi
    tate peius

    (Nichts ist Gott so sehr verhasst wie das Schlechtere)

    Eine Sehenswürdigkeit ist auch das in die gelehrte Klosterwelt eingelassene Barockbühne mit einer Zuschauer-Empore, leider nicht mehr vollständig mit allem Dekor zu sehen, aber mit Apoll als Beschützer der Tragödie, das Glücksrad der Fortuna an der Hand, und mit Pallas Athene als Beschützerin der Komödie. Im 17. Jahrhundert gehörte es zum Schulbetrieb, vielleicht auch zur kulturellen Ertüchtigung der Benediktinermönche, wöchentlich Deklamationen und "Streitübungen" vorzuführen. Am Ende des Schuljahres kam dazu noch die von Schülern aufzuführende "Endkomoedie", deren Drehbuch in lateinischer Sprache von den Lehrern verfasst wurde. Um 1621 wird ein gewisser Benedikt in der Salzburger Filiale des Klosters als "erster Pater Comicus" bezeichnet. Als Kulissen gab es hier in Ottobeuren "Zwei Wellbäume" sowie "12 Veränderungen und Kulissen" (ob diese noch vorhanden seien, konnte uns der Aufseher leider nicht sagen). 1726 wurde unter Arbogast Thalheimer "Die wiedererwiesene Unschuld der Eudoxia" aufgeführt, wobei man auf folgende Kulissen zurückgreifen konnte:

    1. Eine Ruine
    2. Ein Saal
    3. Ein Zimmer
    4. Ein Kabinet
    5. Ein Tempel
    6. Ein Wald
    7. Eine Gasse
    8. Eine Stadt
    9. Eine Landschaft
    10. Ein Gefängnis
    11. Die Nacht
    12. Ein Garten
    13. Hohes Gebirge
    14. Ein Meerhafen
    15. Ein Zimmerschluss
    16. Ein Theatersaal

    (Letzteren für das Stück im Stück gewissermaßen, wie in Shakespeares Sommernachtstraum.) Man schloss uns dann noch ein Kabinett auf, das "Krippenfiguren" enthalten sollte - in Wahrheit gab es außer diesen eine ganze Szenenfolge köstlicher Puppenvitrinen, die Schreinerei des Klosters beispielsweise und die Bibliothek mit naturgetreuen Miniatur-Folianten, den Garten, eine Hochzeit zu Kanaan, und in der Mitte noch eien Vitrine mit Damen (!)-Wäsche in der Tracht des 17. Jahrhunderts, in Originalgröße bzw. -kleine, darunter den Schnürleib eines Dirndl mit metallverstärkten Verschlüssen, wer mag den im Kloster liegengelassen haben?

    Nach dem Crash...

    Die anschließende Besichtigung der Basilika führte uns dann in ein fröhliches Engelsgewimmel, das einen leicht schwindlig werden ließ. Fotos des oberschwäbischen Frommgeflügels stellt der Fotograf Wilfried Edelmann unter dem Titel "Engelskinder in Schwaben" vom 20. Juni bis zum 3. Oktober in Schloss Höchstädt aus - zum Rahmenprogramm gehört auch ein Workshop für "Gipsherstellung und -gießen von Putten/Engel, nacharbeiten, bemalen bzw. bronzieren". Wir sahen in der Kirche einen weiteren Fotografen, mit dem wir ein paar Worte wechselten - er arbeite im Auftrag der Abtei und sei aus Potsdam und müsse wahnsinnig schnell einpacken, weil um 18.30 die Abendvesper beginne, und dabeidürfe er auf keinen Fall stören. Eine instruktive und gut bebilderte Darstellung der Barockelemente der Basilika findet sich auf der homepage der Familie Seyfert aus Aalen. Mir war jedenfalls einigermaßen belämmert nach dem vielen Barockzeugs und während Kornelia  eigentlich gern noch den Benediktinerkult observiert hätte, freute ich mich, hinaus in den Abend zu treten, wo sich  der Himmel hinter dem abendschein-beleuchteten Kloster geradezu endzeitlich verfinsterte und ein bombastisches Barockbühnenbild abgab. Wir besorgten uns dann noch vom Jacobimarkt türkischen Vorspeisenquark, gebratene Zucchini und Auberginen, die wir abends zu Lammkoteletts vom hiesigen Metzger ("aus eigener Zucht") verspeisten.


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  • Commentaires

    1
    hdorn
    Lundi 9 Août 2010 à 20:12

    Dem Müsziggang frönend danke ich dir für diese sinnesberauschende Besichtigung

    Putten haben mich auch, just eben noch,  in der Kirche in L'Isle sur la Sorgue in Mengen erfreut, ohne dass ich sie so wortgewandt beschreiben könnte; guten Appetit!

    und schöne Ferien wünsche ich euch ...

     

    2
    Petit Larousse Profil de Petit Larousse
    Lundi 9 Août 2010 à 20:30

    Danke! wie schön, dass wir unsere Ferienerlebnisse sogar per Internet austauschen können. Ich muss nur aufpassen, keine e-Mails mit Anfragen und dergl zu bearbeiten... in der Vaucluse waren wir oft, haben vor allem in Uzes auf einer alten Schäferei gewohnt, wo es eine Hütte ohne wasser und Strom, dafür mit Brunnen und Gas-Kühlschrank und natürlich Gasherd gab. Riesengrundstück unter schattigen Pinien, woran wir die Hängematten hingen... geht ihr zum Festival?

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    3
    hdorn
    Mardi 10 Août 2010 à 08:46

    Gleich steht eine Tour durch das Städtchen an, mit kundiger Führung, ohne nörgelnde Jugendliche, morgen mit dem Zug nach Avignon, um um 9.30 vor den anderen Touristen den Palais zu entdecken 

    und für alle immer mal wieder das Wasser der Sorgue, erfrischend und um die 14° 

     

    Bonne journée

     



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