• Belämmerung der Tölpel

    Da schlug ich heute früh die Zeitung wie gewohnt am Föjetong-Ende auf und denk mir beim Anblick des alten hakennasig-silberhaarigen Mannes, der da vor einer satten  Bücherwand abgebildet ist: schon wieder Ernst Jünger? gedichtbaende_enzensbergersHat der die 100 nicht längst hinter sich und muss in der Hölle für zwei bis drei Ewigkeiten die Leni Riefenstahl küssen - nachher ist Hitler mit dem Mundgeruch dran? eine Pizza Lombroso bitte, mit viel LavaterNein, es war Hans Magnus Enzensberger, der heute 90 wird, wie jetzt der tote Rühmkorf auch, und in der Hamburger Rühmkorff-Ausstellung hat mir die Kuratorin erklärt, im Rahmen eines Projekts  entstünden Doktorarbeiten zur Frage, weshalb so viele Dichter grade 90 werden. Ich würde bei Cesare Lombroso (der u. a. "Verbrecherphysiognomien" gesammelt, taxonomisch sortiert und aufgelistet hat) nachschlagen, der vor über 100 Jahren darüber nachgedacht hat, wieso ausgerechnet in Italien, seinem Heimatland, vor allem in Florenz, aber auch Verona, so viele Genies auf die Welt kommen, u. a. im Kapitel "Einfluss der Atmosphäre auf die Entwicklung des Genies", und mit sagenhaften Schaubildern und Tabellen darlegte, in welchen Monaten die Genies besonders gut gedeihen und in welchem Klima & zu welcher Jahreszeit mit einer Rekordernte von Verbrechern, Revoluzzern und Wahnsinnigen zu rechnen sei. Auch Enzensberger stellte einst die Frage, wozu die Menschen in Düsseldorf geboren werden? Aber da könnte man die Gegenfrage stellen: und wozu wohl in Kaufbeuren....?
     
    Suhrkamp-Taschenbuch 4 - Gesammelte Werke des JungdichtersDoch grade an diesem Ehrentag muss ich mich darauf besinnen, daß ich ein Gedicht von Enzensberger "Botschaft des Tauchers", gefunden in dem rotleuchtenden Band links, es muss so 1972 oder 1973 gewesen sein, in einer Deutscharbeit bei unserem guten alten Deutschlehrer deuten musste. Aufgabe der Schüler (*innen gab es da nicht, echt noch nicht, wir zwölfjährige Buben waren unter uns) war, sich selber ein Gedicht für diese Klassenarbeit mitzubringen. Bei der Rückgabe der Arbeit erhob der Lehrer, für den die Geschichte der Lyrik mit Georg Trakl (immerhin!) zu Ende war, die Stimme: ein Schüler habe ein Gedicht eines Autors interpretiert, von dem er noch nie was gehört habe, und schob mir das Heft hin: eins minus, weil ich die Morsezeichen nicht interpretiert hatte. Enzensberger war damals schon Büchnerpreisträger, gab die Zeitschrift "Kursbuch" heraus und hatte im Spiegel den Neckermann-Katalog rezensiert. Na, man muß dem Mann nicht übel nehmen, dass er keine aktuellen Zeitungen las und geschweige denn das "Kursbuch", von dem der Zweitausendeins-Verlag dann einen preiswerten Reprint auf grottenschlechtem Bibeldünndruckpapier vorlegte, damit wir, die ernstesten Jünger, den geistigen Emanationen der jüngstvergangenen, alt-vorderen Studentenbewegung (Tod der Literatur!) hinterherhecheln durften. Jahrzehnte später gab es dann ein essayistisches Sperrfeuer des SPIEGEL-Autors Enzensberger gegen die Friedensbewegung, weil er damals in Saddam Hussein einen Hitler in Menschengestalt erblickt hatte, den wahren Gottseibeiuns aus Babylon, und diese Volte hat den früheren Amerikakritiker (man lese seine Brief-Kontroverse mit Hannah Arendt nach) wohl einiges Hirnschmalz gekostet, das bekanntlich nicht mehr nachwächst. Sein Triumphgeheul bei den Siegen Washingtons von 2003 waren die Synthese des einst so manierierten Schön-, späteren APO-Freigeist. Die 68er waren doch nur sauer, weil sie mit ihrem bisschen Volkssturm und Flack mit den kiffenden und rockenden Vietnam-Veteranen auf der anderen Seite des Teichs schon rein anekdotisch nicht mithalten konnten. Daher hassen sie bis heute alle, die sich den Truppengelöbnissen trillerpfeifend und fromme Lieder singend in den Weg stellen. So lebten wir uns auseinander, Enzensberger und ich, sein früher Anhänger ("Beseitigung der Anhänger", wär auch ein schöner Lyrikband-Titel gewesen). Jeder ging danach seiner Wege.
     
    Ich las übrigens auch die Doktorarbeit des Lyrikers, der überdies auch noch einen technischen Beruf erlernt hatte, und war dabei in öffentlichen Nahverkehrsmitteln unterwegs, und wohl als Schwarzfahrer, wie ich meinem Exemplar (Taschenbuch aus dem dtv-Verlag) ablesen kann. Der Name, der da Belämmerung der Tölpellinks oben eingeschrieben steht, ist nicht meiner und auch nicht der des Vorbesitzers. Diese irreführende Inschrift diente als Argumentationshilfe, für bei eventuellen Fahrscheinrazzien fällige Verhandlungen mit dem Kontroletti nach dem Motto - Fahrschein vergessen - Ausweis nicht dabei - äh, meine Adresse? Ich heiße XYZ, wohne in der Soundsostraße, hier bitte, mein Exlibris beweist es! (unnötig zu sagen, dass in den jeweiligen Straßen, z. B. "Enzstraße" in Stammheim, nur Garagen standen). Ich las jedenfalls nicht nur die Gedichtbände (aus denen ein besonders ramponiertes Exemplar eine Auswahl darbot), sondern auch Theoretisches und Essayistisches über Lyrik, z. B. Enzensberger "Die Entstehung eines Gedichts" in streng serifenloser Schrift mit einem Essay von Werner Weber. Ich wurde dann Lektor, aber mit denen hatte der Dichterfürst kein Glück. Laut der Liste seiner Werke in dem schmalen Heftchen von 1962 soll er u. a. Texte eines gewissen "Andreas Gryphus" herausgegeben haben - der war vermutlich wie Arno Schmidts Altertum-Ego Pythias, als dessen Arbeitgeber, in den "Gryph-Werken" für Sport und Freizeitkleidung tätig? Gegen Schmidt hatte sich HME auch missfällig geäußert, im Essay Lob der Inkonsequenz.
     
    Enzensbergers VerlagsbiographieSpäter gab derselbe Enzensberger eine Buchreihe "Die Andere Bibliothek" heraus, die wegen der sorgfältigen Gestaltung und Edition ("Bleisatz & Buchdruck, angenehmes Papier, gut gebunden", so die Eigenwerbung) Begeisterungsstürme der Kritiker hervorrief. Unter dem Titel "Journal einer Revolution" war auch eine Auswahl aus den Tagebüchern des von Enzensberger geschätzten Karl August Varnhagen von Ense dabei. Enzensberger hielt den Umgang der Germanisten mit diesem Heine-Freund und Revolutionsbefürworter für "das seltene Beispiel eines perfekten literarischen Verbrechens".
    Allerdings: Bei Herstellung der Druckvorlage dieser Aufzeichnungen des Herrn von Varnhagen aus dem Jahr 1848 wurde aus den alten Ausgaben von 1861/62 fotokopiert! Vielleicht hatte der Lektoratsassistent oder sonst ein Lohnsklave des Verlags oder die Sekretärin des Dichterfürsten den berühmten schlechten Tag? An der Kopiermaschine wurden mehrere lästig aneinander haftende Doppelseiten einfach überschlagen, die Texte vom angeblich so sorgfältigen und gestalterisch lobenswerten Setzer besinnungslos zusammengeleimt, und auch beim Korrekturlesen, falls ein solches stattfand, fiel es niemandem weiter auf, dass die folgenden Sätze irgendwie rätselhaft klingen
    In "Journal einer Revolution", Greno-Verlag, S. 16:
     
    Er sandte seinen Gesandten in Karlsruhe, den General von Radowitz, nach Wien und Paris, um den Fremdling - denn er war Unterthan des Königs und staatsrechtlich kein Pole mehr, sondern in Frankreich einge­bürgert - zu begnadigen, wozu dieser selbst ein Bittgesuch einzureichen freilich verweigerte.
     
    Die Buchvorlage "Tagebücher" aus dem Jahr 1862 (Bd. IV) endete Seite 173 unten hinter "um den", Seite 178 oben beginnt mit "Fremdling - denn", ausgelassen wurden die Seiten 174 bis 177. (Der "Fremdling" war indessen nicht in Wien oder Paris, wo kein preußischer Gesandter irgendwelche Fremdlinge hätte je "begnadigen" können, sondern in Moabit inhaftiert: der Revolutionär Ludvik Mieroslawski...)
     
    Ferner heißt es in Enzensbergers Greno-Version, Seite 138:
     
    Die Verhand­lungen des Landtages haben eine schiefe Physiognomie, die falsche Stellung giebt sich überall kund, höhnen ihr Vaterlandsstreben, schneiden ihnen alles Recht und alle Hoffnung ab.
     
    In der Buchvorlage von 1862 (Bd IV) steht am Ende der Seite 369 "überall kund," - Seite 372 beginnt mit "höhnen ihr"; ausgelassen wurden die Seiten 370 und 371. Hier ein "Snippet" aus der Greno-Textfassung, auch noch mit Zeilenumbruch an der Zensur-"Schnittstelle":
     
    Wie nannte es der Herausgeber?Belämmerung der Tölpel
    Das seltene Beispiel eines perfekten literarischen Verbrechens....
    Woher ich das weiß? Aus einem Buch über diese Thematik, das beim Verlag wohl  als "vergriffen" gemeldet wird und dessen Restauflage  längst zu Matschepampe verarbeitet wurde, als Pappmaché zur Gestaltung vergänglicher Dichterdenkmäler zu gebrauchen, ohne dass Hans Magnus ("der Große") Enzensberger je einen Blick in die Fußnoten jenes Sekundärwerks riskiert hätte - wozu auch?

     


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