• Brüssel, es reicht

    Wir wissen es nicht... vielleicht ein Gläschen Sekt? Heute abend um zwölf? Aber das Neue Jahr kommt bestimmt. Und wenn im Zuge der EU-Osterweiterung und der Afghanistan-Hilfe die Seidenstraße in den  Binnenmarkt einbezogen wird, kommt zum 3. Februar das

    Jahr des Metallhasen (Rabbit) / 辛卯 / 12 Tiere beherschen den chinesischen Mondkalender. Warum diese dabei sind und andere nicht und wie die Reihenfolge der 12 Tiere festgelegt wurde, erfahren Sie hier...

    Wenn China das Neujahr feiert, werden die zukünftigen Träume beschworen.

    Es soll Glück bringen, Fenstern und Türen zu öffnen, um das Glück während des Festes herein zu lassen und die Lichter in der Nacht brennen zu lassen, um dem Glück den Weg ins Haus zu leuchten und böse Geister abzuschrecken. Unglück vermeidet man, indem keine neue Schuhe während der Neujahrestage gekauft werden, da das Wort Schuh (鞋子, Xiézi) dem Wort für schlecht, böse und ungesund (, Xié) sehr ähnlich ist und die Haare während der Festlichkeiten zu schneiden bringt ebenfalls Unglück, da das Wort Haar ( / , ) und das Wort Glück ( / , ) dasselbe ist und man sich dieses wegschneiden würde (mehr).

    Das chinesische Neujahr (CNY) 2011 des Metall-Hasen dauert vom
    3. Februar
    '11 bis zum 23. Januar 2012.

    (gefunden auf http://www.my-chinese.ch/)

    Wir wünschen unseren Lesern & Leserinnen ein frohes Neues Jahr!


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  • ....allen Erniedrigten und Beleidigten und Frierenden zum Trotz, möchte ich hier mal ein Loblied auf den Schnee singen. Die Enkomiastik ist im Gefüge der rhetorischen Formen eine rühmenswerte Tradition; so hat Erasmus von Rotterdam unter dem Titel moriae enkomion ein "Lob der Torheit" geschrieben, Willibald Pirckheimer unter dem Titel podagrae laus ein "Lob der Gicht" (seiner eigenen) und ein Schriftsteller namens Liscow im 18. Jahrhundert das Lob der elenden Skribenten. Also leihe, Muse, meinem Federkiel deine Flügel, um eine laus nivis (kommt von nix, lat. der Schnee, pl. nives = die Schneemassen; nivea = schneeweiß) zu ersinnen und die Nützlichkeit der so reichlich fallenden und trotz gelegentlicher Temperatur-Aufschwünge nur langsam abschmelzenden Schneemassen zu preisen: Rein und unschuldig liegen sie da, verdecken häßliche Formen und allen Unrat der Menschen, sorgen für Stille und ruhenden Verkehr. Weich und doch wehrhaft, denn letztlich ist der Schnee mit noch so viel Salz, Schaufelarbeit und Eispickeln gar nicht kaputtzukriegen, man kann ihn mit Laserkanonen beschießen, Schnee behält - solange es dieser spezielle Aggregatzustand des im Sommer so begehrten, ja lebensnotwendigen Wassers ist - immer seine krystalline achteckige Struktur.Schnee in Tüten Schnee gehört allen, es liegt genug davon herum auf öffentlichem Grund und noch niemand (mal abgesehen von Alpenregionen, wo er für den Wintersport tauglich ist) kam je auf die Idee, ihn zu besteuern, zu vermarkten oder gar seinen Preis durch künstliche Verknappung zu erhöhen. Mehr noch: wer ein Grundstück oder einen Balkon sein eigen nennt, darf sich ja wohl als rechtmäßiger Besitzer des darauf gefallenen Schnees fühlen und z. B. Freunden, die keinen oder nicht genug davon haben, welchen mitbringen, wobei sich die Tiefkühlkost-Einkaufstüten der großen Discounter, angereichert mit Kühlelementen sehr für den Transport eignen. - Aber wozu, Loch in der Wandwerdet ihr fragen, soll das gefrorene Nass denn taugen, das man mühsam jeden Morgen von Autos und Bürgersteigen entfernt? Hier wäre anzuraten, Schnee als Spachtelmasseden eurozentrischen Blickwinkel zu erweitern und sich an den Eskimos ein Beispiel zu nehmen, die haben bekanntlich jede Menge Gespür für Schnee. Zwar werden wir in unseren Breitengraden kaum deren Angewohnheit übernehmen, unsere Häuser aus Schnee zu bauen, schon wegen des überschaubar bald erlöschenden Mindesthaltbarkeitsdatums. Kleinere Spachelarbeiten an der Fassade lassen sich indessen bei entsprechend niedrigen Temperaturen sehr zufriedenstellend mit Schnee ausführen. Wer sich als Städteplaner betätigen will, kann aus Schneeziegeln manches Nützliche gestalten, z. B. eine Einfriedung des Bürgersteigs an Stellen (siehe Bild), wo die Kraftfahrzeuge die Kurve kratzen, SchneemauerSchneekugelderen Fahrer die freigeräumten Bürgersteige als Fahrspur nutzen und so für unangenehme, mit normalen Bordmitteln nicht mehr zu beseitigende Glatteisbahnen sorgen. Sollte trotzdem einer die Absperrung durchbrechen, kann man vom Fenster aus ballistische Experimente mit Schneekugeln durchführen. Als Kernmasse eines wohlgeformten Schneeballs dürften sie dessen Flugbahn den richtigen Drall geben. - Man kann den Schnee auch in einen Eimer schippen, ein heißes Wannenbad einlassen, sich das Badezimmer warmheizen, und vor dem Einsteigen und zwischendurch mit Schnee abreiben - gut für den Kreislauf und man braucht nicht das Auto zur Wellness-Sauna zu bewegen! - Übrigens wissen nur die wenigsten, dass Schnee auch eine wohlschmeckende, kalorienarme Mahlzeit ergeben kann. Hier verrate ich euch mein Lieblingsrezept: Man nehme eine Pulle Eiswein und gieße sich zunächst ein reichlich bemessenes Glas davon ein. Dann fülle man Schnee in eine Rührschüssel und schlage ihn mit Hilfe des sog. "Schneebesens" steif (kann länger dauern).Eiswein Eiswein im GlasEischnee elektrischUnökologische Faulpelze dürfen sich der handelsüblichen Elektro-Geräte bedienen und sorgen im Wege der Erderwärmung gleichzeitig dafür, dass nächstes Jahr noch mehr Schnee fällt. Die cremige Masse fülle man in einen Teller, lege ein Hühnerei dazu, fertig ist der sog. "Eischnee" - wohl bekomm's! Eischnee perfekt serviertNatürlich gibt es noch andere Arten, Schnee zu genießen. Kenner aus dem Rotlichtmilieu schwören auf folgendes Rezept: Feinen Pulverschnee erst mit der Kreditkarte kleinhacken, dann einen höherwertigen Geldschein in einigermaßen stabiler Währung Eisbombe zu SylvesterEisbombe zu Sylvester(Schweizer Franken, US-Dollar, Sloty; wer nichts Bares hat, kann sich notfalls an den Strohhalm klammern) zusammenrollen, anschließend durch die Nase inhalieren. Passend zur Sylvesterfeier kann der Schnee auch als sog. "Eisbombe" serviert werden. Für dieses völlig harmlose Vergnügen braucht es nur eine Zündschnur, die an der Schneekugel angebracht wird, sowie ein Feuerzeug. Wenige Sekunden vor dem Jahreswechsel entzünde man die Schnur, rufe die Partygäste zum Selbstmordattentat zusammen und zähle den Countdown mit: Vier.... drei.... zwei.... eins... PENG!


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  • AdventskranzHeute, am vierten Advent, möchte ich auch noch etwas über die für hiesige Verhältnisse ungewohnt winterliche Vorweihnachtszeit erzählen. In Hürth, wo Kornelia vorher wohnte, konnte man vor Jahren noch ein Verbrecheralbum der gehenkten Weihnachtsmänner anlegen - inzwischen sehen die Kerle immer einheitlicher aus und wirken kein bisschen originell, sorgen auch nicht mehr für Einbruchsmeldungen bei der Polizei. Weihnachtsmänner am NeumarktDie Werbefigur eines großen Kölner Foto-Fachgeschäfts fotografiert konsequent an ihnen vorbei die Passanten auf der Straße. Aber General Frost und Feldwebel Schneematsch belagern nun auch die Rheinregion. Tatsächlich bin ich seit neuestem nebenamtlicher Schneeschipper, wenn auch nicht allein - der Nachbar links von uns ist zwar krank, aber die Regel, dass Mieter, die parterre wohnen, grundsätzlich den Schnee räumen müssten, gilt längst nicht mehr. Gesetzlich ist (und bleibt) nicht der Mieter verantwortlich für die Räumung der Bürgersteige an der Grundstücksgrenze, sondern der Hausbesitzer - natürlich kann er das delegieren, und wir kriegten dieser Tage auch einen komplizierten Plan, der alle Etagen einbezieht, freilich auch diejenigen, wo pflegebedürftige und greise Mieter wohnen. Überdies ist man hier im Haus stolz darauf, alles "intern" zu regeln und sich unförmlich über Gemeinschaftsaufgaben wie Treppenhausreinigung etc. zu einigen.Beschneiter Eingang Deshalb kommt immer ein netter Nachbar herunter, der mir hilft und zB. den Besen schwingt oder das von der Genossenschaft gelieferte Granulat mit einem Schüppchen verteilt. Dazu gehört auch der einhellige Schwur, Zufahrt und Zugang zur Garagenzeile im Hof unangetastet zu lassen. Das sollen die Garagenbesitzer selbst machen, die sich bereits murrend beschweren - freilich gilt die Verpflichtung ausschließlich Bürgersteigen auf öffentlichem Grund & Boden, den Zugang zu ihrer "Mietsache" kann meinetwegen die Baugenossenschaft sicherstellen, dafür bin ich nicht zuständig. Zwar könnte man das vom Eingangsbereich genauso sagen, aber da wollen wir ja selber nicht schliddern.Rad im Schnee Übrigens hat heute der BMW Cabrio der jungen Leute von der gegenüber liegenden Straßenseite (die sich auch beschwert haben sollen, obwohl sie vor ihrer Tür noch gar nicht geräumt hatten) anderthalb Stunden versucht, die Auffahrt ohne Schneeketten zu meistern. Wieder und wieder rollten sie zurück, bis ihnen ein Leidensgenosse durch Anschieben half. (Am Hinterhof merken wir, dass das Viertel in einem Tal liegt - im Mittelalter war hier noch das Rheinufer.) Ich habe übrigens auch einen Alfa Romeo von der Kreuzung geschoben und mich auch sonst nützlich gemacht, denn erstens bin ich Frühaufsteher, zweitens tut mir die frische Schneeluft gut, drittens spare ich mir den Wintersport und viertens bin ich sowieso seit Wochen an körperliche Arbeit gewohnt.Bürgersteig, geräumt Buergersteig wieder verschneitSchneeräumenkommando

    Und so war ich auch ganz stolz heute früh auf die geräumte Strecke (siehe Bild links, aber das ist nur die Hälfte, um die Ecke geht es noch einen gefühlten halben Kilometer weiter). Da das Haus längsseitig zur Straße liegt haben wir, wie die Frau mit dem Hund - die übrigens dauernd hilft oder ihren Mann helfen schickt - sagt, "sowieso die Arschkarte gezogen". Wenige Stunden später hatte mir die weißflaumige Prinzessin Blanche-neige alles wieder zugepudert (Mitte), und ich (rechts im Bild) durfte wieder von vorn beginnen...
    Nicht einmal "wie gewonnen, so zerronnen", kann man bei diesem Anblick sagen: Tauwetter ist erst wieder für die Weihnachtstage angesagt, wenn sich alle über Schnee auf den Tannenwipfeln freuen würden. Was das Warten auf Julklapp, Chanukka, den Christkindl-Teufelsbraten oder Santa Claus betrifft, wie immer man die Lichtertage nennen will, haben wir hier in der Nähe eine Besonderheit, von der ich noch mehr erzählen werde. Es handelt sich um ein "Viertel im Viertel", das sich mit seinen Einfamilienhäusern von den Genossenschaftsbauten der Umgebung erheblich unterscheidet. Eingang zur Efferoth-StraßeHausreihe in der Efferoth-StraßeDie verkehrsberuhigte Spielstraße und Sackgasse - nur Anwohner parken hier, soweit sie nicht ebenfalls (womöglich versenkbare?) Garagen haben - ist benannt nach einem verfolgten Antifaschisten und späteren Exilanten, Hugo Efferoth. Der war wie mein Opa in "Schutzhaft", seine 1926 erschienene Ketzerbibel warfen die Nazis auf den Scheiterhaufen, ebenso sein Buch Himmel-Fimmel. Eine Studie zur Sektenseuche der Gegenwart (1923); er floh 1938 nach Südamerika. Er war vor 1933 Redakteur bei der sozialdemokratischen Rheinischen Zeitung gewesen; sein Kollege war der spätere NRW-Ministerpräsident Heinz Kühn, der sich als einziger namhafter Politiker schon zur Adenauerzeit und weit darüber hinaus öffentlich zum Atheismus bekannte. Die Ketzerbibel hieß übrigens im Untertitel "Eine Waffensammlung für den kämpfenden Freidenker gegen Aberglauben und Volksverdummung. (Wie entstand die Welt? Was ist der Mensch? Was lehrte Christus und was taten die Pfaffen?)" Wenn der 1946 in La Paz verstorbene Efferoth wüsste, dass die nach ihm benannte Stichstraße heute die am stärksten weihnachtlich dekorierte ist - ein "begehbarer Adventskalender" sozusagen - , würde er sich vermutlich in seinem bolivianischen Grab umdrehen. Es sind genau 26 Häuser (der Kalender geht also bis zum Zweiten Weihnachtstag), und in einem ist der Deutsche Skibob-Verband e. V. angesiedelt. Sie sind auch ohne Festbeleuchtung hübsch, alle haben einen Vorgarten, bei den meisten kann man durchs Fenster die skandinavisch anmutende Einrichtung im milden Honigschein der Wohnzimmerlampen sehen. Hier benutzt man keine Schneeschaufeln aus Plastik, sondern biologisch einwandfreie aus Holz sowie Holzschlitten. Seit wir hier wohnen, hat uns die Straße beschäftigt (durch sie gelangt man in die Hauptgeschäftsstraße hier, die Markusstraße, die auch zur Straßenbahn-Haltestelle führt), denn das Gerücht geht, der derzeitige SPD-Oberbürgermeister Roters lebe hier in der Gegend, und wir könnten uns gut vorstellen, dass er in einem der Fachwerkhäuser wohnt. Aber wahrscheinlich ist das Quatsch und er wohnt im Speckgürtel zum Rhein hinunter, Rodenkirchen, oder im Westerwald. - Politik und GesellschaftMeine ersten Bilder vom "begehbaren Adventskalender" hatten Bildstörung (Schneetreiben!). Ringsum haben noch andere illuminiert, an unserem Haus gibt's LED-bekränzte Balkons. Die Tanne vor meinem Fenster wird, wie ich erfuhr, schon lange nicht mehr als Weihnachtsbaum dekoriert, dafür ist sie zu hoch gewachsen, und die Nachbarn sind nicht mehr die jüngsten. Das verrutschte Licht oben an der Spitze ist daher kein Weihnachtsstern und auch keine neumodische Energiesparbirne, sondern der Mond, von dem grade ein UFO zur Erdreise aufbricht... Eine Birke, die weiter rechts an der Hausecke stand, wurde seit unserer Renovierungsaktion gefällt ("eine Dreckschleuder", so die Nachbarin), auf dem Tapetenwechsel-Blog ist sie noch zu sehen und eigentlich könnte ich jetzt die Miete mindern, was meint ihr? schließlich sind wir mit Birke hier eingezogen. Andererseits stand die ja nicht vor unseren Fenstern, während "unser" Baum einen gewissen Sichtschutz gibt.
    Hier nun Bilder vom Adventskalender, von Kornelia mit besserem Apparat gemacht:Begehbarer AdventskalenderBegehbarer AdventskalenderBegehbarer AdventskalenderBegehbarer AdventskalenderEfferother KalenderBegehbarer Adventskalender...und noch ein paar Bilder, die ich heute früh im Kalender gemacht habe (räumen musste ich noch nicht; diesmal kam mir ein anderes Heinzelmännchen zuvor).Efferother KalenderEfferother KalenderEfferother Kalender


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  • Klar, was sonst! Aber dieses Jahr springen keine Bücher von Amazon, sondern ausschließlich aus unserer eigenen Bibliothek über die Klinge. Und bei ebay oder Amazon darf ich sie schon gar nicht einstellen, weil ich dann ein Gewerbe anmelden müsste. Leider verschwinden die kleinen Antiquariate, die gelegentlich noch was angenommen hätten. Bonner Lebkuchen-RathausDie meisten Antiquare würden am liebsten Gebühr nehmen, damit sie sich überhaupt mal zu einem Blick in die angeschleppten Bananenkartons bequemen. Und Flohmärkte, da könnte ich Romane drüber schreiben. Es gibt kaum noch Laufkundschaft, die sich für Titel oder Autor interessiert. Wer an eine Flohmarkt-Grabbelkiste mit Büchern tritt, wägt die schweinsledern gebundene, vom längst verstorbenen Kultautor signierte Erstausgabe minutenlang mit spitzen Fingern - in der Denkblase bildet sich der Stoßseufzer: "Bücher! hat das überhaupt noch Zukunft? Die Leute schreiben sich heute doch alles selbst, in ihren Blogs..." -, lässt den Papierklotz wieder fallen, ohne auch nur einen Cent herauszurücken, und geht federnden Schritts, noch einmal kopfschüttelnd: "Bücher..." vor sich hin murmelnd, weiter. Na dann eben nicht. Geben wir die Bücher umsonst her. Aber nicht an Flohmarktspekulanten, sondern an pennyless people, die gar nichts ausgeben können, und sich daher dort umsehen, wo Bücher nichts kosten: in den Selbstbedienungsschränken oder -kästen, die mancherorts in der Fuzo herumstehen (z. B in Bonn, der Stadt, die von einem telekom-gesponsorten Lebkuchenhaus aus regiert wird), oder in Garderoben-Ablagen von studentischen Bibliotheken. Ein (zugegeben recht ungalantes) Lied von Paul Simon besingt fünfzig Methoden, sich von seiner Geliebten zu trennen: "Just slip out the back, Jack, / make a new plan, Stan, / no need to be coy, Roy, / just get yourself free..." - Über meine Trennungserfahrungen beim (umzugshalber notwendigen) "Freilassen" oder besser, Sichbefreien von einst und z. T. nicht weniger leidenschaftlich geliebten Büchern will ich berichten!Universitätsbibliothek Köln
    Verliebt, verlobt, verheiratet, geschieden, heißt ein alter Kinderreim. Doch von Pater Pereira (Muss ein Junge daran scheitern?) über Erich Fromm bis zu Stendhal: die "Kunst des Liebens" kann man überall erlernen, die Kunst des Entliebens und Trennens wird nur dilettantisch ausgeübt. Sammeln von Kulturgütern und Bewahren von Traditionen gilt wie selbstverständlich als rühmenswert - dass aber zum Sammeln auch das Auswählen, Verzichten, gar das Wegschmeißen gehört, will niemand wahrhaben. Und wehe, in den Briefen seiner Ehefrau Rahel, von denen K. A. Varnhagen gut 6000 eingesammelt und ein Menschenalter lang gehütet hat, erweist sich nach 200 Jahren ein Billet an Pauline Wiesel als fehlend, dessen Eintreffen ein Gegenbrief belegt - prompt heißt es, der Nachlassverwalter habe es "verbrannt" (Rahel Levin Varnhagen: Briefwechsel mit Pauline Wiesel, hrsg. v. Barbara Hahn, Nachwort der Herausgeberin). Dass es die Empfängerin verschlampt oder ihrem Witwer vorenthalten haben, dass es bei Rahels Lebenwanderungen von Berlin nach Schlesien, Prag, Töplitz, Wien, Baden bei Wien, Frankfurt a. M., Baden-Baden, Karlsruhe und zurück nach Berlin, bei der Überführung ihres Nachlasses von Berlin über Zürich nach Florenz, von Florenz über Berlin nach Krakau verlorengegangen sein könnte - das kann nicht sein. Der böse Sammler hat's in die Flammen geworfen. Und wenn schon? Er war der Universalerbe, es gehörte ihm. Aber aus irgendeinem geheimnisvollen Grund war das, was verlorengegangen ist und was keiner kennt und was nie wieder jemand finden wird, immer das Beste, Schönste, Aussagekräftigste gewesen.
    Wie auch das Buch, das man aussortiert hat, mit 100%iger Sicherheit wenige Wochen später ganz dringend benötigt wird, weil jemand es ausleihen will, ein Zitat gesucht oder der Titel noch einmal verifiziert werden muss (gut, letzteres geht im Internet, und mit etwas Glück findet man das Zitat bei google.books). Warum ist das Abschiednehmen von Büchern so kompliziert? Komplizierter als das Fortschaffen von Butterbrotpapier, verjährten Telefonbüchern oder Golf-Beilagen der Frankfurter Allgemeinen Zeitung? (Wie heißt es bei Paul Simon: The problem is all inside your head, she said to me...) Gut, bei teuren Literatur- und Kunstzeitschriften (art, grafik novum, akzente etc.) gestaltet sich die Sache schon schwieriger.Hürther Bücherzelle Sie türmen sich mit all dem andern Wust (Telekom-Erstzeichner-Aktien, Mahnbescheiden und Stasi-Personalakten aus der Gauck-Behörde) unter dem Couchtisch. Der beste Platz für Gedrucktes und Gebundenes wäre doch eigentlich der blaue Container - Papiermüll, sofern es sich nicht um experimentelle Prosa oder Porno-Heftchen handelt (dann gehören sie in den Sondermüll). Wir haben doch auch kein Problem damit, funktionierende Gasherde, PC-Bildschirme und Fahrräder in die Schrottpresse zu geben. Aber irgend etwas in uns sträubt sich, schließlich handelt es sich um ein Kulturprodukt. Haben nicht die Nazis zuletzt Bücher verbrannt...? Aber was ist mit den vielen zwischen 33 und 45 erschienenen Büchern der "völkischen" Literatur, die schon in meiner Jugend massenhaft die Flohmärkte füllte, die Regale der Alträucher verstopfte? Blunck, Bruno Brehm, Dwinger, Agnes Miegel, Josefa Berens-Totenohl etc. pp.? Die neuere deutsche Germanistik hat sie durch kritische Aufarbeitung geadelt (z B. Theweleit, Männerphantasien - verdammt, hab ich das eigentlich schon aussortiert? ich lese es ja doch nie mehr, auch nicht das Buch der Könige Teil I b oder sonst etwas von dem Autor, den ich trotz seiner blendenden Linksromantiker-Kolportage letztlich doch für einen Scharlatan halte) und daher zieren sie heute wieder jede Seminarbibliothek.
    Wie schon das Rote Kreuz bei den Altkleidersammlungen und die Wertstoff-Annahmestelle des "Umweltzentrums West" (in der Nähe meiner alten Wohnung), wo man Altmetall, Elektrokram und Hausrat abliefern kann (keine Teppiche und nichts aus Holz), was sie teils instandsetzen und in einer Verkaufshalle preiswert verscherbeln, hat sich eine neue Mitleidsindustrie auch der von ihren Besitzern verstoßenen Bücher angenommen. Auf Initiative von Bürgern oder Stadtbibliotheken - die allerdings auch ihren eigenen Überschuss, womöglich gegen kleines Geld, loswerden wollen -, stellt man Schränke, Kisten oder ausrangierte und mit Regalen ausgestattete Telefonzellen auf, in Bonn allein gibt es sechs Sammelstellen. Dort stellt man seine Schätzchen unter, bis einer vorbeikommt, der gerade mal wieder ein Buch braucht (vielleicht sogar gerade das?) und es mitnimmt.Bonner Bücherschrank Bei diesen Kästen herrscht allerdings eine "negative Selektion" vor, alles einigermaßen Wertvolle wird bald mitgenommen, zurück bleiben Buchklub- und Readers-Digest-Ausgaben, die Gratisbücher aus Werbeaktionen und sonstiger Buchschrott. Da bringen wir mit unserem eher intellektuellen Angebot wieder Leben in die Bude. Man muss nur aufpassen, nichts Vorhandenes mitzunehmen und womöglich mehr nach Hause zu bringen, als man wegschaffen wollte! 
    In meiner Kindheit waren Absender Nikolaus Stuck (ein Junge, der andauernd Briefe schreibt) von Hertha von Gebhardt und Das Haus mit den schiefen Fenstern (eine Geschichte, wo sich ein Junge in einem geheimnisvollen Nachbardorf einen Vater kaufen kann) von Britt G. Hallqvist meine absoluten Lieblingsbücher (die geb ich nicht her, sie liegen grade als gesondert transportierte Kostbarkeiten auf meinem Schreibtisch) Als ich mein erstes literarisches Buch bekam (ausgerechnet Und keiner weint mir nach, von Siegfried Sommer, aus einem Heyne-Prospekt ausgesucht, und irgendwas US-Amerikanisches von einem Schriftsteller mit Nachnamen Disney, leider war es ein anderer und nicht der Erfinder von Micky Maus) war ich etwa zehn. Meine Mutter hatte einen riesigen Bücherschrank. Allerdings las sie nicht viel, es war das Erbe meines Vaters, vorwiegend Rezensionsexemplare oder Werke der Exilliteratur von Alfred Kerr, Heinrich Mann, Feuchtwanger und Co., die mein Großvater aus der DDR schickte. In dem Schrank konnte ich mich fleißig bedienen, Tabus gab es nicht. Aber Hörspiele und Dramen konnte man viel schneller weglesen als dickleibige Romane von Feuchtwanger oder Heinrich Mann, so wurde ich ein früher Anhänger von Heinz Schwitzke, Ingeborg Bachmann und Brecht (Furcht und Elend des Dritten Reiches, danach wußte ich alles!). Dann beann eine lange Perry-Rhodan-, SF-, Ray-Bradbury-Phase und sehr viel später kam noch Tolkien, der Harry Potter meiner Jugend dazu.
    Jedenfalls schien der Besitz von Büchern (am besten natürlich auch das Lesen) in den späten 1960er Jahren erstrebenswert. Es war irgendwie geil, auf der Höhe der kritischen Theorie zu sein mit Marcuse, Wilhelm Reich oder mit dem schwierigen Adorno (den ich noch heute zu lesen und zu verstehen suche). Manche von denen - Ernst Bloch - hab ich noch persönlich als Vortragsredner erlebt. Da hatte ich bereits kapiert, dass seine Thesen schon in den Titeln der Werke enthalten sind (Atheismus im Christentum, Avicenna oder die aristotelische Linke, Das Prinzip Hoffnung, Experimentum Mundi) und die Werke seine Lesefrüchte zur jeweiligen These nachliefern. Irgendwie breitete sich in mir damals die Vorstellung aus, auch ich müsse eine enzyklopädische Bibliothek für alle mich entfernt interessierenden Wissensgebiete zusammentragen: Geschichte aller Epochen, Musik, Philosophe, Meditationsliteratur aus China, Indien und Tibet (I Ging, Mahabharata, Gedichte aus dem Rig-Veda, Sri Aurobindo), Mythen, Heilkräuter, Astronomie und Raumfahrt (die Mondlandung verhalf mir zu einer Mondkarte und zum ersten signierten Buch, Das Weltall und seine Entdeckung von Günter Doebel). Deutsche Literatur, na klar, die interessierte mich schon, weil ich ein Germanistikstudium anfing. Von allen Autoren, die ich mag, oder die ich auf Dichterlesungen erlebte (incl. Signaturwünschen) ein, zwei Bücher, von einigen Werkausgaben (die Freundin einer Freundin verschaffte mir ein gutes Dutzend Meyers' Klassiker-Ausgaben, DDR-Zwangsumtausch sorgte für Aufbau-Klassiker, Lexika, Literaturgeschichten), Außerdem wollte ich alles von Arno Schmidt lesen und alles, was er gelesen oder übersetzt hatte. (Möchte vielleicht irgend jemand da draußen dänische oder französische Übersetzungen von "Aus dem Leben eines Fauns" haben? oder eine dänische Auswahl dt. Gegenwartsautoren von 1970 mit Signaturen von Wolfdietrich Schnurre und Wolfgang Hildesheimer?) Dann kamen noch einige andere Namen, von denen "Alles", jedes Werk, jeder Essay- oder Briefband, jedes kleinste Anthologie-Fitzelchen gesucht und gefunden wurde. Als ich dann studierte, mußten Kindlers' Literatur-Lexikon und neue, bessere Ausgaben her. Natürlich auch von Engländern, Franzosen, Russen, Tschechen etc., alles, was gut und teuer ist: der ganze Swift, alles von Sterne und John Donne und Joyce (aber lese ich Finnegans Wake im Original in diesem Leben noch?), Dos Passos, Robert Frost,  Camus, Sartre, Queneau und (meiner schweizerfranzösischen Freunde halber) Ramuz; Stanislaw Jerzy Lec, Karel Capek, Bulgakow, Daniil Charms, von Tolstoi Anna Karenina und Krieg und Frieden (hörte letzteres kürzlich in 1000 Folgen im Radio, statt es zu lesen), Dostojewski, Gogol, Jurij Trifonow, Louis Paul Boon, Anthony Burgess, Lewis Carroll, die Südamerikaner und noch ein paar Dutzend mehr. Broschuren gab's damals für umgerechnet 25, später 50 Cent auf Ramschtischen, die direkt am Wegrand vom Bahnhof zur Uni lagen. Billig-Bouvier wurde mein Stammlokal, wo ich mehr Zeit verbrachte als im E-Raum! Zudem brach die Zeit von Zweitausendeins-Buchpaketen und "im Schuber" verpackten Taschenbuchklötzen an (ich sage nur: Goethes Weimarer & Hamburger Ausgaben, Grimmsches Wörterbuch, Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens usw., usw.).
    Ja, ich bekenne mea culpa, es war nicht normal, ich war nicht ganz dicht, es war Suchtverhalten, ich beging die Kardinalsünde der voluptas (Völlerei). Dafür belohnte mich Abend für Abend der Anblick der bunten, verheißungsvollen Buchrücken, und das beruhigende Gefühl, jederzeit etwas herausgreifen und lesen, zitieren oder vorlesen zu können (ich liebe Rückenansichten, aber nicht dass ihr glaubt, ich sähe mir alles, was ich mag, nur von hinten an, da wurde von vorn, seitwärts und in allen denkbaren Positionen geblättert, gelesen, gelacht und geseufzt - sitzend, liegend, stehend, beim Essen und Zähneputzen, kartoffelschälend oder Pizzateig knetend, und natürlich auf dem Klo).
    Schließlich wurde ich in einem Verlag angestellt und kriegte neben der Gesamtproduktion vieles von anderen Verlagen, auf Buchmessen, in Verlagsetagen, augenzwinkernd von stolzen Autoren zugesteckt... Ich wurde Übersetzer, Herausgeber, Autor - noch mehr Werbeexemplare und Belege. Anrufer im Oktober vermuteten zu Recht, dass ich von den soeben gekürten Literatur-Nobelpreisträgern (z.B. Neruda, Canetti, Claude Simon, Kértesz, Naipaul) immer schon ein, zwei Bücher im Regal haben könne (traf aber nicht immer zu). Gottlob kam ich in keine Literatur-Jury, sondern rezensierte vorwiegend "nur" CDs, die dann ebenfalls über mich hereinbrachen, aber das ist ein andres Thema. Schließlich meine Dissertation, die mir ermöglichte, den Ankauf vieler schöner Erstausgaben des 19. Jhds. steuerlich als Fachliteratur zu behandeln. Und endlich die Vereinsgründung: noch mehr Bücher, als Geschenke, Werbeexemplare, unverlangte Zusendungen von Leuten, die beurteilt (aber nur gelobt!) werden wollen, die selbstherausgegebenen Bücher des Vereins, und so weiter, und so weiter... Graffiti an der Kölner UBAber wie verhielt sich das alles zu den asketischen Idealen meiner Jugend? "Intensiv leben, früh sterben" (Janis Joplin), "die vielen Dinge machen uns arm" (Indianerweisheit), "nie mehr mitnehmen, als man mit einer Hand tragen kann!" (Jonathan, ein Motorradfreak und Gras-Dealer)??? Bei einer Zählung, die ich vor etwa fünfzehn Jahren unternahm, hatte ich 3.500 Bücher, heute wird es mehr als das Doppelte sein. Ich habe jedes Exemplar kürzlich in der Hand gewogen und eingepackt, und werde bald wieder jedes Exemplar in die Hand nehmen. Und ja, ich habe ich von vielem bereits getrennt und werde noch mehr aufgeben. Just get on the bus, Gus, you don't need to discuss much... Unten im Keller habe ich 5 Kisten in 3 Reihen zu einer Höhe von 4 Kisten getürmt, macht 60 Bananenkartons prallvoll mit Büchern (getragen haben wir immer die halben Kartons, wäre sonst zu schwer), ein summendes Kraftwerk aus Büchern, eine wahre Fußbodenheizung des Geistes. Aber es enthält immer noch zuviele Brennstäbe und darf keine Endlagerstätte werden.
    Nehmen wir den Autor Alan Sillitoe: Ich liebte ihn abgöttisch, seine sozialkritisch-realistischen Kurzgeschichten törnten mich an, alle Romane von der Einsamkeit des Langestreckenläufers über Samstag nacht und Sonntag Morgen bis zu Nihilon - brauche ich das noch? Nein. Auch Bücher, die ich sehr liebte, von Marquez, Singer und Co. sind nach oft mehrmaliger Lektüre abgeliebt und bedürfen keiner Erneuerung. Das Beste davon habe ich im Kopf. Auch anderes, darunter manches Alt- oder Fremdsprachliche, werde ich es je lesen, mich in die Fremdprache vertiefen, auf keinen Fall Griechisch, aber noch einmal Latein angehen? Alles von Goethe, Heine und Co. behalte ich (noch), das meiste aus der neueren deutschen Literatur, natürlich Widmungsexemplare und liebe Geschenke, aber die mittelhochdeutschen Ausgaben? Das Statistik-Lehrbuch? Die Alfred-Adler-Bände und die vielen politischen Schwarten, Psycho-Kommunardenliteratur, Rudi Dutschkes Sozialismus-Analysen, in sozialliberaler Belle Epoque ein kritischer Stachel, heute längst überholt? Ein Buch aus dem Werkkreis Literatur der Arbeitswelt hab ich dem penetrant-altstalinistischen, lernunfähigen Autor kommentarlos zurückgeschickt. Marxens Kapital in 3 Bänden ließ ich fahren (nicht allerdings die köstlichen Briefe); behalten werde ich Adorno und (vermutlich) auch den Bloch, vielleicht nehme ich es auch mit Kant oder Hegel als Leser nochmal auf... vielleicht ist das falsch oder auch das noch zuviel des Guten. Esoterik ging dahin, Soziologie & Politik weitgehend, von Geschichte blieben nur Standardwerke, Linguistik und Kommunikationstheorie ist längst weg. Mythen- und Märchenbücher aus aller Welt, da überlege ich noch, ob ich mich auf diesen noch unberührten Kosmos dereinst einlasse.
    Andrang am Bonner BücherschrankAndrang am Bonner BücherschrankDas meiste haben die Studenten der Uni Köln gekriegt, alle paar Tage rollte ich einen großen Rollkoffer zur Ablage. Es war auch alles bald verschwunden (vielleicht sieht man manches auf Flohmärkten wieder), nur die dänischen Ausgaben von Robert Neumann  lagen länger herum. Auch die UB Bonn hat so eine Ecke, zudem gibt es dort den Bücherkasten (dessen Transfergeschäft sich die Studenten der Marktforschung nicht erklären können), wohin Kornelia den Versailler Vertrag, Oswald Spenglers Untergang des Abendlands, die Dokumente zum Zweiten Weltkrieg und den gesammelten, veralteten "Gebhardt" (eine historiographische kommentierte Bibliographie) brachte. An einem Sonntag glaubten wir schon, zuviel mitgebracht zu haben, aber nach einem Spaziergang durch Bonn war, wie wir zur Poppelsdorfer Allee zurückkamen, die Hälfte der Fuhre weg, und wir konnten nachlegen - worauf es zu einem regelrechten Ansturm kam, man ließ uns kaum durch! In die Hürther Zelle kam die leichtere Kost für Hausfrauen und Bauernburschen: Stephen King, Kochrezepte, Reisebücher, Zeichen- und Bastelanleitungen, von mir übersetzte Thriller und Liebesromane (anstatt anständiger Honorare gibt man verlagsseitig gern mehr Belegexemplare, mit denen man allerdings im Bekanntenkreis, wenn es literarisch von minderer Güte ist, auch nicht grade Ruhm erwirbt). Leichtere neuwertige Unterhaltungsromane kriegt Kornelias Mutter für einen Basar, wo ebenfalls Bücher für gratis oder für kleines Geld zu gutem Zweck verteilt werden. Kurz, die papierne, gedruckte und gebundene Weisheit, die in den letzten 25 Jahren stagnierte, kommt wieder in den Fluß. Und dagegen ist doch nichts einzuwenden, oder?

     


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  • Schon am 1. Oktober, noch vor Abschluss des Mietvertrags, hatten wir beim Provider den Umzug für 15. November beantragt, was dann verschlampt wurde. Zwei weitere Wochen mussten wir auf die Freischaltung warten, einen Tag lang hielt ich vergebens Ausschau nach dem angekündigten Techniker; kein Selbstinstallationsversuch funktionierte.Tacheles Logo Zwei Tage später kam der Mann doch noch, fand keinen Anschluss unter diesem Stecker - die alarmierte Genossenschaft reagierte prompt, so dass anderntags um 11 Uhr alles funktionierte, ohne Aufmeißeln der Wände und Wegrücken der Bücherkisten im Keller! Zwischendurch hatte ich einen Übersetzungsauftrag per e-Mail zu erledigen und bekam ein honoriertes Vortragsangebot: Gerne würde ich den genauen Titel und den Termin mit Ihnen konkretisieren, schrieb mir die zuständige Dame: Unter der Tel-Nr. ******** kommt dauerhaft ein Besetztzeichen. Wie können wir miteinander ins Gespräch kommen? Darauf machte ich meiner Verärgerung in einer Beschwerde Luft:Szenenbild aus "Anstreicher sind vergesslich" ...haben den Antrag bei dem freundlichen und kompetenten Mitarbeiter abgegeben. Er wurde der zuständigen Stelle vor unseren Augen gefaxt. Damit wäre alles in Ordnung, dachten wir. Fehlanzeige! Völlig unvorbereitet erfuhren wir letzten Donnerstag, dass der Antrag bei Ihnen liegengeblieben ist. ... Von einer Entschuldigung der Firma mir gegebenüber habe ich bisher nichts gehört, und kenne nicht einmal einen belastbaren Termin... Wenn ich über eine Woche nicht mehr erreichbar bin, entgehen mir Aufträge; mir entsteht objektiv ein wirtschaftlicher Schaden. Auf diese e-Mail antwortete mir der Provider wie folgt: Guten Tag! Schön, dass Sie auch an Ihrer neuen Adresse mit *** telefonieren möchten! Dazu sind detaillierte Angaben zu Ihrem neuen Wohnort erforderlich... Bitte beachten Sie: Bei einem Umzug benötigen wir ab Eingang der Umzugsmeldung derzeit eine Bearbeitungszeit von etwa 2-4 Wochen. Bitte schicken Sie uns daher möglichst bald das ausgefüllte und unterschriebene Formular, gern auch per Fax usw. Meine Antwort: Lieber Roboter, wahrscheinlich hast Du meine Nachricht zwar gelesen, aber nicht verstanden. Lass Dich mal von einem kompetenten IT-Techniker neu programmieren. Bühnenbild zu Dario-Fo-EinakternNähme ich das von Dir emittierte Standard-Kunden-Betreuungs-Geschwafel ernst, müsste ich es für reinen Hohn halten, dass mir eine Firma, die mich soeben mit dem Termin meiner Ummeldung draufgesetzt und mich telefonkommunikationstechnisch von der Aussenwelt abgeschnitten hat, so eine Nachricht zusendet. Ich schicke aber diesen gesamten Briefwechsel ein paar Freunden von mir, die in der Umgebung wohnen und die möglicherweise auch einmal darüber nachdenken, ob sie Dich je mit irgendwas beauftragen wollen. Richard Gutermuth als Dieb, der nicht zu Schaden kamViele Grüße, Dein Kunde. Danach kriegte ich noch eine etwas kleinlautere e-Mail mit dem Angebot, mir 30 € gutschreiben zu lassen, damit muss ich es wohl bewenden lassen.

    Aber weil wir zwischendurch auch noch mal was anderes als Umzugsstress erleben wollten, folgten wir der freundlichen Einladung von Elisabeth, meiner Freundin aus frühester Jungmannzeit (35 Jahre muss das jetzt her sein), in das Kulturzentrum "Klangbrücke" nach Aachen. Dort führte sie mit ein paar Freunden unter der Regie von Tatjana Jurakowa zwei Einakter von Dario Fo auf: Der Dieb, der nicht zu Schaden kam und Anstreicher sind vergesslich. Das Theater Tacheles e. V. ist ein Unternehmen theaterbegeisterter Zeitgenossen aus den verschiedensten Berufen - Verwaltungsangestellte, Krankenschwester, Apothekerin -, die es sich leisten, zweimal im Jahr ihre Freizeit zu opfern und mit liebevollem Aufwand, selbstgeschneiderten Requisiten und Kostümen und einer eingekauften Profi-Regie Dramen, Komödien und Boulevardeskes aufzuführen.Szenenbild aus "Der Dieb, der nicht zu Schaden kam" Einige liebäugeln sogar mit dem Schauspielerberuf oder leben zumindest von einschlägigen Seminaren und Workshops. Eine Förderung erhält der Verein nicht und muss selbst für die städtische "Klangbrücke" einen, wenn auch symbolischen Mietpreis zahlen. Der Druck von Programmheft und Eintrittskarten wird mit Anzeigen finanziert. Für alle Stücke werden zuvor die Rechte bei den Theaterverlagen erworben - in der Hoffnung, dass sich das Geld wieder einspielt, was nicht immer der Fall ist; dann wird auch schon mal ein Nachlass gewährt. Die Liste der von ihnen aufgeführten Autorinnen und Autoren kann sich sehen lassen: Friedrich Dürrenmatt, Oscar Wilde, Michael Ende, Agatha Christie, Walter Hasenclever - und nun also der italienische Nobelpreisträger Dario Fo. Ähnliches macht eine andere, schauspielerisch ähnlich hochbegabte Freundin von mir, die witzigerweise ebenfalls Elisabeth heißt, mit dem Theater Stückwerk in Bern, das ebenfalls als Verein organisiert ist.
    Bühnenrequisit des Tacheles-TheatersTrotz Schnee & Eis & vergessenem Zettel mit der Adresse fanden wir die Kurhausstraße auf Anhieb und sogar einen guten Parkplatz, weshalb wir nicht zu spät zum Theaterfrühstück anrückten. Denn das Besondere an der Sonntagsmatinee ist, dass die beteiligten Tachelesier vor der Aufführung zu einem kleinen familiären Frühstück aus belegten Broten und Kaffee einladen. Als es schließlich so weit war, nahmen wir im abgedunkelten Saal Platz  und sahen zunächst beim Einbruch in einer gutbürgerlichen Wohnung zu. Gutbürgerliches Ehepaar Leider ist der Dieb verheiratet und seine Frau hat die Angewohnheit, ihn auch im Dienst telefonisch erreichen zu wollen. Schließlich hört er, völlig unerwartet, den Hausherrn - mit seiner Geliebten im Schlepp - an der Tür und entschlüpft in den Uhrenkasten - eine tolles Bühnenrequisit, das aus einer wunderschönen alten Standuhr und eigenhändigem Tischlerwerk eines der Schauspieler konstruiert worden ist. Nach einigen Schäferminütchen auf der Couch schlägt's irgendwann zwölf und der verbeulte Dieb gibt sich wehklagend zu erkennen. Szene aus "Der Dieb, der nicht zu Schaden kam"Zunächst hält das ehebrechende Paar ihn für einen Detektiv, den die Ehefrau des Hausherrn, die bald darauf persönlich erscheint, mit Ermittlungen beauftragt hat. Auch die Ehefrau des Ganoven, dessen Leben kurzzeitig auf dem Spiel steht, will in der vermeintlich leeren Wohnung nach dem Rechten sehen. Die wechselseitigen Ausreden der Ertappten produzieren ein wildes Chaos von Missverständnissen, bis sich die Sache endlich mit der Flucht aller Beteiligten (teils wieder durch den Uhrenkasten) glückhaft auflöst.
    Das zweite Stück fordert zumindest einem der Schauspieler sehr viel Geduld ab: Tobias Valtinat & Elisabeth BooiEr muss nämlich die meiste Zeit stocksteif im Stuhl sitzen und "toter Mann" spielen. Es handelt sich, so soll man glauben, um die einbalsamierte Mumie eines Orient-Forschers, der die Vielweiberei auch praktisch erproben wollte, weshalb seine Ehefrau und (angeblich) Witwe ein Bordell für ihn erwarb, von dessen Betrieb sie heute noch lebt. In Wirklichkeit gibt sie dem Mann zweimal am Tag eine Spritze, die ihn bewegungsunfähig macht. Elisabeth Booi in der GarderobeDavon ahnen die zwei gerissenen, faulen und geldgierigen Anstreicher nichts, die sich als "Dekorateure", sogar als "Restauratoren" ausgeben und nach einem kleinen Handgemenge vermuten, sie hätten den lebenden Ehemann getötet. Einer von ihnen muss sich verkleiden und die Rolle des stummen Sitzenden spielen, während der Einbalsamierte des Anstreichers Klamotten erhält. Bis endlich die geneppte Bordellwirtin mit der Spritze naht, der vermeintlich Tote wieder aufwacht und eine turbulente Balgerei anhebt.

    Die Theaterstücke, die der 84jährige Dario Fo (er war ursprünglich Architekt) für kleine Theater und Wandertruppen schrieb, gelten seit jeher als provokativ, gesellschaftskritisch, anarchistisch. Applaus für Tobias und ElisabethBegeistertes Publikum applaudiertNicht selten riefen sie die Zensur auf den Plan. Unter Druck von Obrigkeit und Kirche wurden Fo-Szenen abgesetzt, aus dem Rundfunkprogramm geworfen oder polemisch verteufelt. Inhaltlich, aber auch in den dargestellten Typen (ehrbare Bürger, kleine Handwerker, Ganoven) zehren sie von der Tradition des italienischen (vor allem neapolitanischen) Volkstheaters, der commedia dell'arte. Dass Dario Fo 1997 für sein "volkstümlich-politisches Agitationstheater" den Literaturnobelpreis der Schwedischen Akademie der Wissenschaften erhielt (es führte gar zu Rücktritten im Nobelkomitee), macht den Autor zum idealtypischen Gegenspieler des derzeitigen, leider immer wieder gewählten Präsidenten Silvio Berlusconi. "Wettstreit zweier Berufskomiker", nennt es Dario Fo laut Programmheft. Neulich hat der Theatermann dem Machthaber und Medienmogul die Leviten gelesen, mit einer Lesung aus den Schriften Macchiavellis, worauf mich Brigitta Flau in Italien aufmerksam machte.
    Natürlich fallen viele lokaltypische Anspielungen und der volkstümliche Dialekt in der Übersetzung der Einakter unter den Tisch, weshalb die Aufführung ein wenig klamottös und klamaukig daherkam. Der Spielfreude der Enthusiasten vom Theater Tacheles e. V. tat das keinen Abbruch, und sie meisterten sowohl die rasanten Dialoge als auch die physischen Strapazen mancher Gags, wie das Schultern einer mindestens zehn Meter langen Handwerkerleiter. Nils Gajek, Holger Telke, Richard Gutermuth, aber auch Elisabeth Booi und - besonders wegen ihrer ruhigen Spielweise, die ganz auf originelle Mimik vertraute - die Debütantin Astrid Maasen ließen an Professionalität nichts zu wünschen übrig. Anna Maria Emons lieferte einen ausgezeichneten ehetypischen Beziehungsdialog mit ihrem Einbrecher vom geheimnisvoll verhängten Zimmer aus - eine raffinierte Regie-Idee. Das Strumpfband: ein wichtiges Accessoire!Garderobe von Elisabeth und TheresaAuch von Tobias Valtinat, der einen überzeugenden Auftritt als krückstockschwingender Bordellbesucher hinlegte, und Theresa Müller Lüdenbach hätte man gern mehr gesehen. Begeisterter, minutenlanger Applaus des leider nicht gebührend voll besetzten Theatersaals dankte dem Ensemble für anderthalb vergnügliche Stunden voller verrückter Gags und überraschender Wendungen.
    Zum Abschluss führte man uns hinter die Bühne und wir durften einen Blick in die Künstlergarderoben werfen. Leider war die Regisseurin Jurakowa an diesem Morgen nicht anwesend, und uns fehlte auch die Zeit, mit ihrer Assistentin Petra Gawlik ein paar Worte zu wechseln, die zugleich unverzichtbare Arbeit als Souffleuse leistet. Bei professioneller Lichtregie und gut ausgewählter Musikbegleitung sind die Aufführungen des Tacheles-Theaters als unfromme, desto willkommenere Advents-Absacker zu empfehlen. Die beiden Einakter von Dario Fo sind am Sonntag, 5. Dezember 2010, 10.00 zum letzten Mal zu sehen. Und vielleicht dürfen Interessierte auch diesmal einen Blick hinter die Kulissen riskieren...

    Backstage im Tacheles-Theater


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