• Heute um 8.00 geht es los. Alle Schränke sind geräumt, der Inhalt verpackt, Regale etc. abmontiert, Bilder abgehängt, 100.000 Einzelteile (vor allem Bücher und Ordner) schon in der neuen Wohnung... Mal sehen, ob mein Nachbar, der so gern die Parkplätze meiner Wohngegend möbliert, den Parkplatz vor dem Haus freimacht, damit die Möbelpacker das Umzugsgut nicht um seine Höllenmaschinen herumbugsieren müssen. Er stellt auch Motorräder links und rechts von seiner Einfahrt so auf, dass er praktisch über zwei Grundstücke einschließlich aller Parkplätze gebietet.Drei Parkplätze für einenBitte freilassen, Herr Nachbar
    Freundlich gebeten haben wir ihn schon per Schild.
    Aber er hat schon angedeutet (nicht mir persönlich, sondern im Vorbeigehen meiner Frau), er habe dann "Dreharbeiten", müsse nachts arbeiten, unsere Umzugsfirma soll den Kasten doch vor seine Einfahrt stellen - dabei hat er zwei halbwüchsige Söhne. Aber da ist noch ein PKW, augenscheinlich mit platten Reifen, der parkt seit vielen Monaten dort, ohne bewegt zu werden - ebensowenig wie der Nachbar seinen Schrott. Darüber, dass kein anderer dort einparkt, wacht die selbsternannte concierge im Erdgeschoss, die auch gern mal Post von mir in ihre Wohnung nimmt, der Briefträger reicht sie ihr plaudernd durchs Fenster, statt sie in den Briefkasten zu stecken oder dem Adressaten auszuliefern, selbst wenn der persönlich herunterkommt. Sie passt auf, dass hier nur ihre Freunde parken und hat außer einem Teddy in Polizeiuniform, der eigentlich für durch Unfall o. ä. traumatisierte Kinder vorgesehen ist (sie ist bei jedem Unfall, jedem Blechschaden, jedem Notarztruf in der Straße als erste Sachverständige vor Ort), sogar einige dieser humorigen deutschen Schilder im Fenster: Vorsicht, bissiger Nachbar! und Wer hier parkt, fährt auf Felgen heim. Heute hat sie ihren großen Tag, bei schönster Aussicht, denn die Arbeiter müssen mit meinem Hausrat unter ihrem Fenster defilieren, und das kann dauern, wenn der Parkplatz nicht - wie es unter netten Menschen mit guter Sozialisierung selbstverständlich wäre - für drei oder vier Stunden geräumt wird. Wir werden sehen!

    Ein paar Stunden später:
    Tatsächlich, der Anhänger blieb stehen, die Halter ließen sich nicht blicken, ebensowenig wie der des immobilen PKW, der seit Monaten wie einzementiert vor dem Haus stand; ich glaube, er hat platte Reifen.Bitte-freihalten-Umzugsschild (Inzwischen durch Winterreifen ersetzt, ein Motorrad des Filmmagnaten steht hält jetzt dort den Platz besetzt.) Jedenfalls musste unser türkisches Helferteam vom Niederrhein in der 2. Reihe parken und Autoverkehr ein bisschen, den Fahrradverkehr stark behindern. - Natürlich gibt es in dieser Gegend auch noch andere Zeitgenossen, die mit ihrem Krempel die Straße dauerhaft möblieren. Diejenigen, die ihre Bierbuddeln auf jedem Mauervorsprung oder Blumenkasten abstellen, hinterlassen wenigstens keine unvertilgbaren Spuren, da die Sammlergilde das Pfandflaschengut alsbald beseitigt (Unbepfandetes, wie die Coffee-to-go-Becher vom nahegelegenen Subway-Imbiss, bleibt liegen). Andere, die gegenüber im Hypermarché eingekauft haben, lassen gern ihre Pfand-Einkaufswagen stehen. Radler, die ihres Drahtesels überdrüssig sind - vielleicht sind es auch Studenten, die unversehens in die äußere Mongolei auswandern - , ketten ihn am Laternenpfahl oder anderswo an und kommen nie wieder her, um ihn abzuholen. Daher gibt es kaum Parkplätze für Radler. Die besseren Funktionsteile werden nach und nach abgeschraubt, der angekettete Rumpf bleibt. Man sollte Nummernschilder einführen - für Räder und für Einkaufswagen, deren Nutzer notfalls den Plastikchip drinlassen den Euro mit der Kneifzange aus der Anschließvorrichtung reißen, um den Warenkorb am Straßenrand auszusetzen. Letzteres ist aber nicht ungünstig, wenn man umzieht und Nachbarn ihre Mobilien stur vor dem Haus stehenlassen. In so einen herrenlosen Einkaufswagen kann man bis zu drei Bananenkisten mit Büchern zum entlegen geparkten eigenen Auto transportieren. Als die Familie meines Hauswirts weggezogen war und fünf Wohnungen bei uns leerstehen ließ, hatte er gleich die Park- und Gesetzeslücke entdeckt und nutzt nun den Platz gewerblich, auf den Madame Pseudo-Concierge - vielleicht ebenfalls gewerblich? - ein Auge für ihn hält.

    Man hätte ein absolutes Halteverbot erwirken und ein Verkehrsschild mieten können, das kostet allerdings 33 € Gebühr zzgl. Schild-Miete, und der Nachtmahr wäre doch nicht abgerückt und hätte das Knöllchen von max. 25 € in Kauf genommen, mein Nachbar ist so drauf, dem ist das wurscht, und die Polizei hätte ihn wegen der Bagatellverkehrsstörung vermutlich nicht abschleppen lassen. Also hatte ich mein eigenes Schild gebastelt, und weil es so schön ist und die Sperrmüll-Abfuhr auch den Ständer nicht mitgenommen hat, lasse ich es noch eine Weile liegen, vielleicht mehrere  Jahre? Damit jeder sieht, wes Geistes Kind die Leute hier sind.  Fahrrad und Einkaufswagen Und dann gibt es noch den französischen Nachbarn, den Hersteller von Pferdestärkendroschken, der immer neue Blechkisten anliefern lässt, mit ebenfalls in der zweiten Reihe stationierten Transportern, aber zum Abstellen der Verkaufsware okkupiert er wenigstens nicht die öffentlichen Parkplätze, sondern hat sein eigenes riesiges Areal hinterm Haus. Außerdem entschädigt der Franzose die Anwohner anlässlich von offenen Verkaufs-Sonntagen durch Werbegeschenke wie Umhängetaschen oder Kaffeetassen mit Firmenlogo, während der Höllenmaschinen-Nachbar früher jedem, der auch nur im Fünf-Meter-Abstandsbereich von seinem Hof parkte, einen Zettel an die Windschutzscheibe zu heften pflegte: Sie behindern wichtige Dreharbeiten! (er leiht seinen Schrott, wenn er nicht grade vor meinem Haus herumsteht, an Filmproduktionsfirmen aus, offenbar läuft das Geschäft seit vielen Monaten schlecht). Lieferung neuer AutosDer Franzose hat einen einen eigenen Parkplatz für sein Angebot, statt öffentlichen Raum gewerblich zu nutzen, und zweitens macht er ca. viermal im Jahr Event-Sonntage ("keine Beratung! kein Verkauf!") mit Kaffee und Kuchen, Grillfleisch und Kölsch und Musikband für die gestressten Anwohner, die, wenn sie seine Marke fahren, mitunter auch mal ein Werbegeschenk abstauben. Das konnte mal ein Wasserball, mal eine Tasse mit Köln-Silhouette oder auch eine knallgelbe Umhängetasche sein (meine zweite beginnt mittlerweile auszufransen). Außerdem war der Service wenn auch nicht grade billig, so doch zuverlässig und freundlich, und gleich neben der Riesenfirme gibt's noch einen Pneu-Händler, wo nun die Sommerreifen unseres Wagens gelagert sind, was vorher in meinem Keller möglich war (wir lassen sie nicht auf der Straße herumstehen oder -liegen). Dort stauen sich, seit der erste Frost kam, auch jeden Morgen die Wechselwilligen in der 2. Reihe, bis Polente kommt und dem Spuk ein Ende macht.

    Gartenseite der alten WohnungAlles in allem hab ich gern hier gewohnt, bis vor einigen Jahren das Viertel herunterzukommen begann. Die Straße war laut, dreckig, eine Rennpiste für Verrückte, die sie für einen Autobahnabzweig nach Bonn hielten, wenn jemand sie zu überqueren wagt, wird nicht gebremst, sondern gehupt - und beschleunigt! und jede Woche gab es zwei Blechschäden, die vom Fenster im Erdgeschoss gut zu beobachten sind. Aber der Blick aus dem Küchenfenster (im Bild: das linke Dachfenster) auf den verkrauteten Garten des Hauswirts entschädigte für vieles, von hier kam auch gute Luft. Allerdings hatte ich noch andere Probleme im Haus: oben Ratten im Speicher, gegen die der Vater des Hauswirts Mausefallen auslegte - mit denen hörte ich die Viecher nachts Fußball spielen, am andern Tag fehlte der Köder.Im Keller verschimmelte Briefe Im Bad funktionierte die Wasserleitung nicht und gab nur ein dünnes Rinnsal ab, auf Besserung war nicht zu hoffen, ich solle den Hahn weiter aufdrehen, teilte man mir im Brief an den Mieterverein mit. Auch noch vor vier Wochen, als es um eine Mieterhöhung (!) ging, freilich ohne die Absicht, etwas gegen die feuchten Wände im Treppenhaus zu tun, oder gegen den nassen Keller,Garten-Blick aus dem Fenster in dem mir die dort deponierten Briefe der Jahre 1982 bis 1984 regelrecht verschimmelt sind.Gitarrenkoffer des Liedermachers Die hätten vermutlich nicht mal díe Restauratoren des Kölner Stadtarchivs mit ihrer Gefriertrocknungs-Methode zu retten vermocht. Von anderen Schätzen habe ich mich bei diesem Umzug gar freiwillig getrennt - mein alter, aber nicht mehr zu schließender Gitarrenkoffer, den ich auf vielen Liedermacher-Tourneen mit Aufklebern geschmückt habe, z. B. mit Werbung gegen Strauß bei der Bundeskanzlerwahl, für einen Feuerlöscher, für Hoyaer Fleischschweine oder für den Bonner Neanderthaler. Ich kann nun mal nicht alles aufheben und ein "Museum meiner selbst" eröffnen - dazu fehlt denn doch der Platz, wenn man einen Lebensort nach 25 Jahren aufgibt, um mit dem Partner in eine gemeinsame Wohnung zu ziehen. Vermissen werde ich vielleicht auch Möbelwagen vor dem Umzugshausmanche meiner Nachbarn, wie den mit Migrationshintergrund von gegenüber, der ganzjährig einen gitarrespielenden Weihnachtsmann auf seinem üppig bepflanzten Balkon hält. Möbelpacker und ZuschauerZur Weihnachtszeit stellt er zusätzlich eine aus LED-Lämpchen gebildete Gruppe von Leucht-Rehlein auf, ein Elch senkt und hebt perodisch den Kopf, als ob er in seinen Blumenkästen grasen wollte. Dieses Anblicks werde ich also zum kommenden Weihnachten entbehren müssen. Dieser Nachbar (er ist aber nicht des Besitzer des ominösen PKW) hat sich die Prozession meiner Möbel und des Hausrats allerdings auch nicht entgehen lassen, während meine Concierge, jedesmal wenn ich zu dem Fenster schaute, verbissen abwandte und in ihren EXPRESS guckte. Apropos EXPRESS, der hatte gestern die Schlagzeile Google-Street-View / Peinlich! / Das Stadt-Archiv steht noch - dieses Werbeblatt für eine kuriose Fotoserie pflückte ich mir noch vom Automatenkasten, um es als Andenken in meinem Keller aufzuhängen. - Ein großes Lob noch an die Duisburger Umzugsfirma, die im Hürther Wochenblättchen inserierte und das von uns vorbereitete Transportgut schnell, effizient und klaglos abräumte. Mein muskulöser 17jähriger Neffe (Rudersportler, ging danach noch zur Muckibude) hat auch mitgeholfen, und wir hatten ebenfalls unser Päcklein zu tragen. Jetzt ist erstmal alles vollgestellt in der neuen Wohnung, ohne Ordnung und Verstand, aber das wird sich noch ändern. Übrigens haben wir selbstverständlich noch die Treppe geputzt in dem Haus, wo ich bisher wohnte, von oben bis unten, wir sind ja kein asoziales Gesindel. Dafür empfehle ich mal einen Neujahrsbesuch vor der überbreit definierten Hauseinfahrt des Filmmagnaten. Der brennt in jeder Sylvesternacht ein Wahnsinns-Feuerwerk von Billigkracherpaketen ab und lässt die Überreste wochenlang liegen und latscht (oder fährt) da durch, bis sich die städtische Straßenreinigung irgendwann erbarmt und vor seiner Türe kehrt. Wenn er das noch für sich allein machte, meinetwegen, sowas soll's geben, aber wie gesagt, der Mann hat zwei Söhne im Alter meines Neffen... was die Sozialprognose angeht, kein gutes Vorbild!


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  • Wenn man jung ist, unter oder Anfang 20, möchte man (wenn man kein Nesthocker ist) in der Regel das "Basislager" der Familienhölle baldmöglichst verlassen, sucht das Weite oder stürmt den Himmel,Aktenordner indem man einer Rakete gleich Brennstufe um Brennstufe abwirft, und schert sich nicht um Kindheitserinnerungen - lieber wird man nicht daran erinnert, vor kurzer Zeit noch Kind gewesen zu sein. Hat man erstmal ein halbes Jahrhundert zurückgelegt, wird die Begegnung mit Überbleibseln aus der Kindheit interessant. Vor allem, wenn man gewisse Vorprägungen wiedererkennt. So habe ich im Alter von zehn Jahren bereits einen Aktenordner mit "alten, aber vielsagenden, an alte Zeiten erinnernden Dokumenten" gefüllt - noch den Datenschutz-Vorbehalt: "Warnung: Für Fremde uninteressant!" dazu gesetzt und mit einem dieser oben und unten eingerolltenAktenordner-Rücken Pergamente (schwer entzifferbar, steht aber nur das Alphabet drauf) illustriert, Archivkellerdie wir uns immer vorstellten, wenn von Schatzkarten die Rede war. Was für Schätze ich damals abgeheftet habe, weiß ich nicht mehr, aber den Ordner habe ich behalten, und in den folgenden Jahren meiner Lebenszeit noch manche Papiere, und das Ordnergebirge kann sich sehen lassen, das ich mit Freunden hergeschleppt und vorerst im neuen Keller geparkt habe (der Fleck auf dem Boden ist eine Ölspur, da hab ich noch gestern Ölwechsel bei unseren Kangoo gemacht - so groß ist der Keller!). Allerdings habe ich ja auch mehrere Berufe gehabt, die jeweils nach Jobs oder Projekten das Abheften von Papier mit sich brachten: Briefwechsel, Manuskripte (als Übersetzer und Autor), Verträge, Abrechnungen, Forschungsergebnisse und Pressedoku, Seminarmaterial, die Besetzungslisten von Hörspielen, Renten- und Versicherungssachen, Steuerbescheide (10 Jahre zurück muss alles greifbar bleiben, bei Freiberuflern auch die Quittungen), Zeugnisse und Familienstandsdokumente, dann kam der Verein dazu und die damit verbundene Archivierung der Vereinssachen, die Zeitungsausschnitts- und Aufsatzsammlung, zu allen rund um das Thema des Vereins gruppierten Themen und Autoren, endlich noch Fotos, Familienpapiere und Kopien von Texten, die mein Großvater, meine Großmutter, meine Nenn-Tante, meine Mutter und mein Vater veröffentlichten. Da kam einiges zusammen...
    Das heißt aber nun nicht, dass ich immer nur mit Papier zu tun hätte.

    Zugabe ThFelder und Stählinstaehlin-pdsk-preisSo bekam ich neulich den ehrenvollen Auftrag einer Jury, dem Sänger und Dichter Christof Stählin eine Ehrenurkunde zu überreichen, in der er für sein Lebenswerk geehrt wurde. Die Urkunde zum Jahrespreis der deutschen Schallplattenkritik wurde während eines Konzerts ausgehändigt, das der (aus Rothenburg ob der Tauber gebürtige) Stählin am Nationalfeiertag in seiner Wahlheimat Hechingen veranstaltete. Da ich nicht Mitglied des Jahresausschusses bin, war ich gar nicht an der Entscheidung beteiligt, hatte aber immerhin den Vorschlag gemacht und einige Mitstreiter aus dem Preis der deutschen Schallplattenkritik (PdSK e. V.) gewonnen, das zu unterstützen. Die Begründung der Jury findet sich auf der PdSK-Webseite. Aber die Begegnung mit dem Preisträger war so interessant, dass ich hier darüber berichten will.
    Da der Gasthof, den ich mir ausgesucht hatte, gar nicht in Hechingen, sondern im Vorort Weilheim lag, und ich, um ihn ggf. per Bus zu erreichen (Sonntags jedoch unmöglich), eine Station später ausstieg, bescherte mir der Ausflug noch einen wunderschönen einstündigen Spaziergang von Bisingen nach Weilheim. In Bisingen wurde der deutsche Feiertag mit Kirmes, Imbissbuden, wohltätiger Vereinswerbung und Rotkreuz-Blutspendegelegenheit sowie sonntäglich geöffneten Läden gefeiert, ich aber nahm, mit Tee und Streuobst wohlversehen, bei sommerlicher Hitze den Feldweg durch Äcker und Wiesen nach Weilheim.Stählin auf dem Tauchberg Dort verlangte die Kellnerin im gutbesetzten Speiselokal (nix Spätzle - die meisten Gäste hatten Schnitzel mit Pommes auf dem Teller) Vorkasse, weshalb ich kein Essen bestellte und kein Trinkgeld auf die 25 EUR gab, die das Zimmer incl. Frühstück kostete ("eine Absteige", meinten einige zweifelnd, die aber meine Gegenfrage, ob es denn ein übel beleumundetes Haus sei, auch nicht bejahen konnten, und so war ich's zufrieden).
    In Hechingen verbrachte ich den Spätnachmittag lesend und dösend im Park, traf dann den Preisträger zufällig auf einem Parkplatz, wurde ins Café eingeladen und erlebte das Kabarettprogramm Deutschland: Wir bitten um Verständnis. Ein Heimspiel: Die Hechinger reagierten so begeistert auf "ihren" Dichter, dass der wenig anmutige Mehrzwecksaal im "Museum" (nicht wirklich eins) dicht besetzt war. Viele waren direkt von einem Kirchenkonzert hergekommen, um den Sänger nicht zu verpassen, die Presse berichtete reichlich (wobei Sätze aus meiner Laudatio sogar in BILD gerieten) und ein enthusiastischer Zuschauer wurde mit den Worten zitiert: "Lieber Herr Stählin, heute Nacht, nach dem Heimweg durch die dunkle Stadt erfasste mich noch einmal Ihre liebenswerte Aufforderung, unter die Sie Ihren Vortrag gestellt hatten... Bei Christof Stählin im TurmWie Sie werben, dies Deutschland anzunehmen, mit seinem Leid und seiner Schuld, mit seiner Qual und seinem Glück, das habe ich noch nie so bewegend erlebt. Sie laden zur Versöhnung ein, nicht zum Vergessen. Deutschland, das ist der Haufen Laub des Gastarbeiters, das ist Beethoven, das sind die Wolken, und das ist das kleine Glück der bunten Kastanien und ist zugleich das große Glück, das uns alle einschließt, die wir unsere Sprache und Geschichte lieben. Sie öffnen diesen weiten Raum in einer kleinen Stadt, das ist ein Hechinger Ereignis, das man im Herzen behalten muss." Natürlich wurde auch wohlwollend zur Kenntnis genommen, dass jemand vom Preis der deutschen Schallplattenkritik eigens aus Bonn angereist war, um die Urkunde zu verleihen, obzwar sich der Geehrte ein wenig Spott nicht verkneifen konnte, wenn er ausführte, wie sehr es ihn freue, dass dieser Preis allein seiner Kunst gelte, der er Rückenwind verleihe, "als rein ideelle Auszeichnung, die von keinerlei materieller Zuwendung getrübt sei". Mit dem Dank an die Akkorde erwies er den Juroren des PdSK seine Reverenz.
    Am Schluss, nach reichlichem Applaus, spielte Stählin mit seinem Freund Thomas Felder, den ich noch aus AG Song-Tagen kenne (er hatte gerade die große Schlacht vom Stuttgarter Hauptbahnhof hinter sich), im Duett eine zweistimmige Zugabe:Stählin kommt nach Hause
    Muss ich mir denn alles gefallen lassen,
    was der Leute Unverschämtheit sich erlaubt,
    muss ich da daneben stehn und wehrlos hassen,
    was mir Geld und Recht und Stolz und Ansehn raubt?
    Oder will ich mir mein Recht erzwingen
    und durch lauter Eigensinn und Streit
    trotzig prozessierend bringen
    um die ganze schöne Zeit?...
    Nein, ich will frei sein,
    nein, ich will frei sein,
    wie der Vogel durch die Luft sich
    und der Fisch im Wasser kühlt.

    Nein, ich will frei sein,
    beim Orchester dabeisein,
    wenns gestimmt hat vor dem Einsatz,
    bis es schweigt und spielt.
    Nachdem der Preis nun verliehen und das Konzert vorüber war, lief ich in Ermangelung eines Taxis auf autofreier Schwabenpiste (B 463) bei sternklarer Nacht und sommerlicher Wärme zurück ins 3 km entfernte Weilheim; beim Pfadfinden tat mir die Schlüsselanhänger-LED-Leuchte, die mir Rose Packebusch neulich geschenkt hat, gute Dienste.

    Am nächsten Morgen um Punkt 9.00, nach einem opulenten Frühstück (vielleicht hatten sie inzwischen BILD gelesen und es tat ihnen leid wegen der Vorkasse, Trinkgeld gab's trotzdem keins, selber schuld) holte mich Christof Stählin mit seinem geräumigen Wagen ab, der ihm auch als Zwischenlager für Zeitungen Christof Stählins Bibliothekund Klamotten dient, um mit mir spazieren zu gehen. Dabei zeigte er mir seine Lieblingsplätze, vor allem den Tauchberg ("meine Toscana"), dicht belaubt mit Stechdorn (den die Schafe nicht abknuspern), wo er sommers im Gebüsch eine Hängematte platziert, um - wohlversorgt mit Buch und etwas Trinkbarem - der Muße zu pflegen. Ein locus amoenus, der mich gleich an Laubers Lorben erinnerte, nach denen sich Christof ganz neugierig erkundigte. Der Archäologe vom Landesdenkmalamt habe seine Theorie, dass hier vorfindliche Steine römisches Mauerwerk seien, nicht bestätigen wollen, aber gleich gegenüber an der Schwabenpiste gibt es eine im Ackerboden befindliche Stichstraße, die zu einer Römervilla führt. "Untersuchen Sie die Maulwurfshügel nach römischen Scherben", hatte der Experte geraten, "Maulwürfe sind die besten Ausgräber!" Kelten, Germanen, Römer, Preußen tummelten sich jedenfalls in dieser Gegend von südländischer Schönheit, in der man von allen möglichen Blickwinkeln aus das Hohenzollernsche Küche im Unteren TurmMärchenschloss als Herr-der-Ringe-Zitat wahrnimmt. Stählin erwies sich über der antiken Spurensuche als Pfleger des Schüttelreims und stimmte mir zu, dass sich dieser auch für ernste oder tragische Gegenstände eignet. Er hatte beim Auftritt mit großartiger Geste das barocke Motiv des Höllensturzes beschworen: "oben winkende Gestalten, unten stinkende Gewalten" und gab vor, den folgenden Reim einer Archäologie-Studentin zuliebe für ihre Magisterarbeit ersonnen zu haben (auch eine Mahnung für Archivare und Tiefenpsychologen): "kommt die lohnende Schicht, nimm das schonende Licht!". Mein auswendig vorgetragenes Duisburger Requiem entzückte ihn; ohne unbescheiden wirken zu wollen - es fiel das Wort "meisterlich"...
    Ein weiteres Gesprächsthema an diesem Vormittag war deutsche Sprachgeschichte, mit der sich Stählin seit langem beschäftigt. So plant er unter dem Arbeitstitel Das Frauenzeug eine Studie über die Feminisierung des Wortschatzes durch falsche Pluralbildungen. Nach seiner Beobachtung werden viele Wörter,  seltsamerweise auch manche Militaria, einer unfreiwilligen Geschlechtsumwandlung unterzogen: früher, als sie noch Maskulina waren, wurde ihr Plural auf -e gebildet. Mit der Zeit ward der Plural für den Singular genommen (manche dieser Wörter sind, wie "Dielen" oder "Schläfen", plurale-tantum-verdächtig), dieser wiederum feminin aufgefasst, um dann eine neue Pluralbildung auf -n vorzunehmen. 150 Beispiele hat Stählin bereits gesammelt und trug mir einige davon vor:
    früher: der Diel, pl. die Diele; heute: die Diele, pl. die Dielen
    früher: der Weih (ein Vogel), pl. die Weihe; heute: die Weihe, pl. die Weihen
    früher: der Schlaf (ein Körperteil), pl. die Schläfe; heute: die Schläfe, pl. die Schläfen
    früher: der Huft (ein Körperteil), pl. die Hüfte; heute: die Hüfte, pl. die Hüften
    früher: der Patron, pl. die Patrone (von frz. le patron); heute: die Patrone, pl. die Patronen
    früher: der Flank (von frz. le flanc), pl. die Flanke; heute: die Flanke, pl. die Flanken
    Die Sprachwissenschaft oder germanistische Linguistik habe sich dieses Phänomens noch gar nicht angenommen, meinte Stählin, der mir empfahl, die Einleitung zum Buchstaben E des Grimmschen Wörterbuchs nachzulesen (was ich bestimmt tun werde, sobald der Bücherberg im neuen Keller abgebaut ist - die grünen Bände sind ganz hinten links!). Bei dieser Gelegenheit erfuhr ich auch noch, woher das Wort Musketier stammt und dass auf den preußischen Abenteurer Joachim Christof Nettelbeck, der in Brasilien einen Goldstaubhandel aufgemacht hatte, der Ausdruck "unter den Nagel gerissen" zurückgeht; mit dieser Methode (beim Umhäufen) wurden, so Nettelbeck in seiner Autobiographie, die Neger beim Handel betrogen.
    Wir sprachen noch vieles auf dem Spaziergang: über Hochstapler wie Harry Domela (ich versprach, ihm dessen Memoiren zu schicken, wie schön, einen Lesewunsch erfüllen zu können, wenn man sich ohnehin mal von einem Buch trennen will); über den Begriff "Autorenlied", den Stählin nicht schlecht findet (während er "Liedermacher" verabscheut) und in der Dissertation von Stephan Hammer über den Berner Chansonnier Mani Matter entdeckt hat; über die Preußen in Hechingen, die hier für Wilhelm II. eigens einen Bahnhof errichteten und Berlin-typische Verwaltungsbauten hinterließen; über Stählins Vorfahren Friedrich von Roth, den Karl August Varnhagen in München kennengelernt und sehr empfohlen hat in seiner Denkschrift an den bayrischen König zur Gründung einer Walhalla - die dann ja auch realisiert wurde, vor kurzem hat man eine Büste von Varnhagens Schützling Heinrich Heine dort aufgestellt (siehe Varnhagen von Ense und Cotta. Briefwechsel 1810-1848. Hrsg. v. Konrad Feilchenfeldt, Bernhard Fischer u. Dietmar Pravida. 2 Bde., Klett-Cotta, Stuttgart 2006, S. 263-267). Christof StählinWeshalb er sich nicht von Hechingen trennen mag, obwohl er in Berlin noch eine Wohnung und seinen Schülerkreis hat (aus seiner Liederschule SAGO sind u.a. Judith Holofernes, Sebastian Krämer, Dota Kehr und Martin Sommer hervorgegangen): die dankbare Stadt überließ ihrem berühmten Sohn für symbolische Miete (50 €) den Unteren Turm mit Leiterstiegen und wunderbarem Ausblick, schwer zu heizen. An der Mauer die Inschrift: Mich hat gebaut Graf Eyttelfritz von Grund bis oben an den Spitz 1579, an der Tür in Stählinscher Kalligrafie: Päckchen bitte im Schuhhaus gegenüber abzugeben. Innen hängt an der Wand eine Panflöte, die Christof Stählin in einem Griechenland-Badeurlaub (den er nur seiner damaligen Freundin zuliebe machte) geschnitzt hat - ich hab ein gleiches Modell aus Südfrankreich. Überdies bietet Hechingen einen Stammtisch der Freunde, wo keiner früher geht, man steht gemeinsam auf und klopft auf den Tisch, dann ist der Abend vorbei. Kein Vergleich mit den neuen Salons in Berlin, die immer so selbstreferentiell seien, wo sich also Damen treffen, die überlegen, ob es jetzt so ist wie ein Salon sein soll usw. (ich nahm dem Dichter das Versprechen ab, einen Essay über diese Erfahrungen zu schreiben). Lieber der Erste hier als der zweite in Rom, soll Cäsar im Pyrenäendorf Aups gesagt haben. Bei zweien seiner Freunde, die in einem verwunschenen 400jährigen Gartenhaus leben, war Stählin zum Essen eingeladen; ich durfte mitkommen und bekam wunderbares Wildschwein mit Ragout aus selbstgepflückten Steinpilzen und "Totentrompeten" (man darf sie, wenn's einem dann besser schmeckt, auch "Herbsttrompeten" nennen), dazu einen guten Roten serviert, und trat um 14.30 die Rückreise an.


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  • Allerheiligen und Allerseelen sind die Spazierfeste aus meiner Kindheit. Sie brachten Ausflüge nebst Kuchen in Cafés mit sich, etwas Peinlichkeit (wohin mit den Händen? woran soll man jetzt denken?) beim stummen Herumstehen vor eingefriedeten Gärtchen mit beschrifteten Steinen. Irgendwer wollte mitunter noch, dass ich die Hände falte und mitmurmele - "Vater unser, der du bist" und so weiter, womit ich nie was anfangen konnte... und ständig das Fingerverbrennen beim Anzünden der Stearinkerzen und nach Einbruch der Dunkelheit, das Schönste: ein Lichtermeer mit meist roten, aber auch manchmal grünen, gelben, merkwürdigerweise nie blauen Plastik-Leuchten.Grab von 1957 Auf dem Grab, zu dem man mich öfters führte als einmal im Jahr, stand eine alte Laterne aus schwerem Gußeisen, darin der gelblich-grüne Glaszylinder, auf dem Deckel ein klotziges Kreuz im Barlach-Stil. Da kam auch eins dieser rotwandigen Riesen-Teelichter rein. - Heute gehe ich immer noch zu dem Grab, das ich vom Friedhofsamt gepachtet habe. Seit einem halben Jahrhundert ist der Baum herangewachsen, der Busch musste schon reduziert werden, Efeu überwuchert alles. Dafür ist im vorigen Jahr die Lampe verschwunden. Wie ich höre, gehen Leute auf der Suche nach Altmetall über die Friedhöfe und heißen mitgehen, was nicht niet- und nagelfest ist. Schade drum, aber nicht zu ändern. Ich komme ja auch nur sporadisch ins Rechtsrheinische. An Allerheiligen wird Laub teils mit dem Rechen, teils von Hand aufgelesen, Äste, Bonbonpapier entfernt, meine Liebste bringt Pflanzen an, oft billige vom Baumarkt in der Nähe - fahren wir last minute am Feiertag hin, wird der lokale Blumenhandel belohnt für die Feiertagsarbeit. Das kommt mit neuer Erde in zwei Schalen, dann wird der Grünmüll weggebracht (schwere Schubkarre über den Müllcontainer zu hieven) und eine Gießkanne am alten Steinbrunnen gefüllt. Die Sachen gehören dem Friedhofswärter, der sie uns ausleiht, wir haben nur einen kaputten Handrechen hinter dem Findling aus der Lüneburger Heide, hergeschafft und beschriftet von dem Bildhauer Hein Derichsweiler (von ihm sind am Waisenhaus in Sülz die Bremer Stadmusikanten, und ich musste ihm mal als Männeken Pis Modell stehen). Dieser Stein aus der Eiszeit muss nicht poliert werden, nur die Efeusträhnen kriegt er frisiert und zum Pony geschnitten. Und der da unter dem Findling liegt - ich hab ihn kaum gekannt -, kommt auch von weit her, aus einem Land, das heute nicht mehr zu Deutschland gehört, wo man aber sehr deutsche Volkslieder sang, die er vermutlich kannte: Lieder, in denen man im Gras unter Linden ein Bett findet oder zwei Bäumelein in Vaters Garten stehn, das eine trägt Muskaten, das andre Braunnägelein, und wo man durch einen Trunk allzeit jung bleibt und die Mädchen in der Welt falscher als das Geld sind. Solche Lieder kannte der bestimmt auch und würde sich freuen, dass sein Grab ein Platz geworden ist, wie er romantischer nicht sein kann. Ich denke oft an ihn und überlege, ob er an mich denkt, ob er mir zusieht bei dem vielen Blödsinn, den ich mache im Leben, ob er wohl entsetzt wäre, wie wenig ich aus mir zu machen verstehe: Ich hatte doch viel mehr Zeit als er und bin schon fast 20 Jahre älter, als er geworden ist, durfte studieren, im Gegensatz zu ihm, der von der Abiturfeier weg zur Wehrsportübung eingezogen wurde und dann vom ersten Tag des Kriegs an fünf Jahre marschieren musste. Der war aber im Herzen bestimmt ein Romantiker, der Volkslieder kannte und gesungen hat, dann war er ja auch noch Journalist und Redakteur, nach 45 Dolmetscher bei den Engländern, wollte nach Britannien auswandern, und so sind meine Teilzeitberufe (Literaturhistorie, Lektorat, Liedermachen, für Geld schreiben und übersetzen) nicht ganz weit weg von dem, was er aus sich machen wollte. Um sich aus einer schwierigen, keineswegs ausweglosen dummen Alltagsverlegenheit herauszuhelfen, ist er einmal zu wagemutig gewesen, aus war's, und das ist vielleicht der Grund, warum ich's nicht bin, jedenfalls nicht im Alltag und wenn es um mich selber geht. Eigentlich wollte ich keine wehmütigen Betrachtungen anstellen, sondern zum dritten schönsten Ferienerlebnis überleiten, das wir vor 14 Tagen hatten, zur Führung über den Zollstocker Südfriedhof...

    Unten in den Kommentaren ist nach der Lampe gefragt worden; allerdings muss ich sagen, der Nostalgiewert war hier nur wenig größer als der Materialwert. So richtig schön war das Dingens nicht, ich hätte es wohl lieber auf meinem Schreibtisch gesehen als in der Schrottmühle,Grabmal Hummerich aber wenn die Hello-Kitty-Puppe jetzt einem lebenden Kind Spaß macht, ist das auch okay, soll man dem weißen Händchen einen warmen Händedruck für geben. Außerdem ist der Verlust einer Hello-Kitty-Puppe oder einer gusseisernen Grablampe kein Vergleich mit den 300 Mio. Reichsmark in 23 Paketchen, davon 230 Mio. Bargeld & der Rest in Wertpapieren, die der Kölner Stadtkämmer Dr. Türk 1944 vor den Alliierten im Erbbegräbnis der Familie Hummerich versteckte! (Dafür würde ich mich auch mal mit dem weißen Händchen anlegen und draufhauen.) Außer ihm waren nur 2 Mitarbeiter eingeweiht; das Rathaus war schon zerstört, der Nazi-Bürgermeister hatte sich abgesetzt und war am Herzschlag verstorben. Viele Kölner, heißt es, haben gegen Ende des Kriegs Schmuck oder andere Vermögenswerte auf Friedhöfen versteckt, was sich sonst dort tat, lese man in Bölls Gruppenbild mit Dame nach.Römergrab in Zollstock Als die Engländer dann im Allianz-Hochhaus am Kaiser-Wilhelm-Ring residierten, wo noch jahrelang die Kölner Stadtverwaltung war, holten sie den Dr. Türk, weil sie von der Sache Wind bekommen hatten, und der führte sie zum Versteck: und siehe da, die Mitarbeiter hatten gespurt, die Kohle war verschwunden (ob vor oder nach der Währungsreform, weiß ich nicht). - Verschwunden sind natürlich auch die Grabbeigaben des Römer-Sarkophags aus dem 3. Jhd. n. Chr., gefunden am Höniger Weg, der von der Besiedlung dieser Gegend zeugt (am Oberen Komarweg lag der Komarhof, einst römisches Landgut mit Villa). - Unweit davon stoßen wir auf einen Grabstein, der (laut Inschrift unter dem Namen, Peter Günther)Grabmal Peter Günther einem "Weltmeisterfahrer" geweiht ist, geb. 29. 8. 1882, gest. 7. 10. 1918. Er starb nicht kurz vor Ende des Weltkriegs oder in Spartakus-Aufständen, sondern gewissermaßen "im Dienst" an einem Sturz vom Rad - er war Radrennfahrer und hatte die Weltmeisterschaft im Steherrennen 1898 und das Rennen "Rund um Köln" 1911 gewonnen. Auf dem Stein steht noch: "Ihrem größten Meister widmen ihr Gedenken die Freunde: die deutschen Radfahrer ihrem Meister als Zeugen unsterblichen Ruhms." Damals war Radsport für die Arbeiterschaft ungefähr das, was heute der Fußball ist, aber viel billiger. Günthers Sponsor war die Firma Clouth (Gummiprodukte) in Köln-Nippes und förderte seine sportiven Aktivitäten mit gerade mal 300 Reichsmark im Jahr.
    Das Bestattungswesen spielte sich im Kölner Mittelalter (und das Mittelalter hielt lange vor) bei der jeweiligen Gemeindekirche im Beinhaus ab. Ziel war es, möglichst im Kirchenraum und dort nah am Altar beigesetzt zu werden, in der Hoffnung, dann schneller von der Auferstehung zu erfahren. Erst als die Franzosen den Kölnern die Zivilisation brachten, wurde der Melaten-Friedhof an der Aachener Straße geplant, wo ganz früher der Galgen, dann ein Lepra-Siechenhaus (der Name kommt von "malade"!) und danach ein Arbeits-, Zucht- und Waisenhaus standen. 1801 wurde auf Napoleons Dekret der Friedhof angelegt, wo noch Grabmal Lindgensbis in die 1830er Jahre überhaupt nur Katholiken beerdigt wurden, trotzdem war er bis Ende des Jahrhunderts pickevoll und es kamen "Entlastungsfriedhöfe" hinzu: der Nordfriedhof in Nippes-Mauenheim 1895, und 1901 der Südfriedhof im 1880 eingemeindeten Dörfchen Zollstock, wohin man anfangs mit uniformierter Blaskapelle (Hinweg: Trauermarschmusik, Rückweg etwas lustiger), Trauergästen in schwarzen Anzügen und glänzenden Zylindern und schwarz drapierten Pferdekutschen durchs Severinstor hinauszog. Muss i denn... Davon kündet noch die Auffahrt vor dem Friedhof, heute Endhaltestelle der Linie 12. Auch Busse verkehren hier, deren Nummern (131, 133, 138)  ÖPNV-User, die uns demnächst besuchen wollen, merken müssen: sie fahren nach Sülz, zum Hauptbahnhof oder eben zum Umsteigen in die 12 zum Südfriedhof, wenn man die 5-10 Min. via Markusstraße nicht zu Fuß gehen will. Den Gleisanschluss verdanken wir den Toten: man konnte die Bahn für Bestattungen mieten, sie fuhr ab 1908 zum "Südfriedhof", dann nach "Zollstock (Südfriedhof)" und heute bloß nach "Zollstock". Der nur noch als Straßenname existierende "Bonner Wall" (Befestigungsanlage gegen die Artillerie) soll damals so hoch gewesen sein - und die Bebauung außerhalb durfte wg. militärischer Sicherheitsbedenken nur ein Stockwerk hoch sein -, dass man oben auf dem Wall stehend die Ziegeleien von Zollstock erblickte, wo in den Jahren nach 1870 viele Liègeois (in Lüttich arbeitslos gewordene Fachkräfte) schafften. Grabstätte FassbenderDie wurden dann hier beerdigt, aber auch reiche Kölner (z.B. der Lackfabrikant Lindgens aus Köln-Mülheim, meiner rechtsrheinischen Heimat), die in der "Millionärsmeile" auf Melaten keinen Platz mehr gekriegt hatten, oder denen es vielleicht an Beziehungen mangelte, die trumpften dann hier posthum mit Marmor, Stein & Eisen auf, weshalb der Südfriedhof auch nicht arm an prächtigen, interessant gestalteten Grabdenkmälern ist. - Da wäre beispielsweise das Fassbender-Erbbegräbnis, das seit 1930 existiert und für das der Architekt Bruno Violi aus Mailand 1935 links die Skulpturengruppe aus Marmor schuf: Männer, die einen schweren Sarg tragen, begleitet von einer Frau und einem Kind.Grabmal Olbertz Ich sollte sie der Aufheiterung wegen zu meiner Umzugsparty einladen! - Venus mit Pfau ist auch nicht schlecht, das Grabmal aus Muschelkalk und Bronze hat etwas Unzüchtiges, man denkt so gar nicht an die Vergänglichkeit dabei, eher an die Eitelkeit des Lebens oder Wollllust mit drei L. Grabmal OlbertzLaut Webseite der Stadt Köln sollen die Pfauen sinnbildlich für die Vergänglichkeit stehen; die Figur in der Mitte sei "geradezu androgyn zu nennen", als Seele des Mannes, Mathieu Olbertz, gest. 1927, und seiner Frau Frederike, gest. 1942, gleichzeitig gedacht. Ob das so stimmt....? "Der Pfau, in feierlichem Staunen, schlägt sein Rad, die Taube stellt den Federkragen hoch", heißt es im Gedicht Erklär mir, Liebe! von Ingeborg Bachmann. - Dabei ist der Friedhof, den Adolf Kowallek, der Gartenbaudirektor der Stadt Köln geplant hatte, zu 80 % gar kein Friedhof, sondern eine Parkanlage im englischen Stil, und hat nur 47.400 Grabstätten auf 65 Hektar, während sich in Melaten 55.000 Gräber auf 47 Hektar verteilen. Einige der schönsten liegen nicht mal an Hauptwegen, sondern versteckt in allerlei Heckenlabyrinthen.
    Natürlich gibt es auf dem Südfriedhof auch die Ruhestätten einiger mehr oder minder bekannter Kölner: FC-Präsident Franz Cremer, der Gründer von Fortuna Köln, Jean Löring, aber auch das Ehrengrab für Ursula Kuhr, die ebenfalls "im Dienst" gestorben ist (geb. kurz nach Anbruch des zweiten Weltkriegs, 3. Oktober 1939, gestorben am 11. Juni 1964), denn, wie es auf dem Grabstein heißt: "Sie opferte ihr Leben zum Schutz der ihr anvertrauten Schulkinder in Volkhoven", wo ein 42jähriger Amokläufer, traumatisierter Kriegsteilnehmer, mit Flammenwerfer und Lanze in die Volksschule stürmte, und seine ehemalige Klassenlehrerin sich zusammen mit ihrer Kollegin Bollenhagen, die ebenfalls wie acht von den Kindern starb (28 wurden verletzt), dem Kerl in den Weg stellte, der sich dann noch vor der Verhaftung mit E 605 vergiftete. Ich wurde (kein Witz!) bei meiner Kriegsdienstverweigerung von den Gewissensprüfern darauf angesprochen: "Was würden Sie tun, wenn Sie zufällig auf dem Schulhof wären, hätten einen Karabiner 98 K dabei...???" Richtige Antwort bitte ankreuzen! Na, als Pazifist würde ich alles tun, um ihm den Flammenwerfer zu entwinden, mich auf ihn stürzen, ihn notfalls niederschlagen usw. - Ein prominentes Grab ist auch das von Karl Berbuer (1900 bis 1977), von dem alle das Lied vom Müllemer Bötchen kennen ("Heidewitzka, Herr Kapitän"), sein Name ist handschriftlich in ein aufgeschlagenes Buch aus Marmor eingetragen. - Peter Müller, allenthalben als "de Aap" bekannt, hatte 1952 den Ringrichter vermöbelt und wurde "auf ewige Zeiten" gesperrt, zwei Jahre später durfte er wieder boxen, er wohnte bs zu seinem Tod 1992 an der Vorgebirgsstraße (ein Schul-Busfahrer in meiner Zivi-Zeit zeigte ihn mir, "da is der Aap") und war am Schluß wohl nicht mehr ganz bei Groschen, lief im Bademantel über die Straße. Man erzählt, ein Kind habe an der Straßenauslage beim Gemüseladen einen Apfel mitgehen heißen, was er gesehen hatte; da soll er den Knaben am Schlawittchen genommen und hochgezogen haben: "Wenn de dat nochemal määhst, schlach isch dich dut! un jetz jank laufe un lass et d'r schmecke..." Claes Oldenburg- Endlich sahen wir noch die Grabstätte der Familie Mauser, die vor dem Krieg Schusswaffen, und danach Bürometallmöbel produzierte (Wolfgang Neuss sagte: "...nicht die Neutronenbombe ist eine Perversion des Geistes, Herr Egon Bahr, der Karabiner 98 K ist eine Perversion des Geistes!"). Sodatengräber SüdfriedhofEigentlich wäre oben rechts das passende Grabdenkmal für die Familie abgebildet, aber das wollten sie wohl nicht, und so hat Claes Oldenburg die Knarre vor dem K 21 in Düsseldorf abgelegt. Statt dessen sieht man die Skulptur eines bärtigen, auf einen Sarkophag gestützten Mann, der schützend mit seiner Linken einen Jungen umfasst - "War Sigmund Freud pädophil?", Bombemopfer Südfriedhofso könnte man es etikettieren. - Einen großen und sehenswerten Teil des Friedhofs nehmen die weiträumigen Ehrengräber für die Opfer des Herrn Mauser und seiner Auftraggeber ein: vom Ersten und vom Zweiten Weltkrieg, mit einem eigenen Friedhof für italienische und britische Soldaten (der gewissermaßen britisches Hoheitsgebiet ist; der Gärtner dieses Teils ist Engländer und hat als einziger Nichtmilitär das Anrecht, dort begraben zu werden). - Die deutschen Steine aus dem Ersten Weltkrieg haben oft interessante Inschriften, die Geburtsdaten stehen dran und es sind oft sehr junge Leute; die angegebenen militärischen Posten (Füsilier etc.) existieren zum Teil gar nicht mehr. Es gibt auch Soldatengräber von Juden und Mohammedanern, hebräisch oder arabisch beschriftet. Im Zweiten Weltkrieg gab es ein Einheitskreuz aus Gußbeton, an den Kanten gebogen wie entchristianisiert und dem "Eisernen Kreuz" ähnlich gemacht - dabei sind die meisten gar keine Kombattanten gewesen -, auf dem nur ein Name oder mehrere stehen. Rund 20.000 Bombenopfer gab es in Köln ( davon liegen 7710 auf dem Südfriedhof; es gab sogar mal einen Fliegerangriff auf die Linie 12, bei dem 21 Leute starben), vor allem in der Nacht vom 31. Mai 1942, als 1660 Bombenflieger im Umkreis von zweieinhalb Kilometern rund um den Neumarkt alles dem Erdboden gleich machten. Die Opfer wurden teils nicht einmal identifiziert, Kriegsgefangene, aber auch Schüler mussten die verbrannten Reste aus den Kellern einsammeln. Aber auf jedem Kreuz steht ein Name, jeder Arier kriegt ein eigenes Grundstück und ein Kreuz darauf gepflanzt: das war der "Dank des Vaterlandes", aber ob die Inschriften stimmen, ist zweifelhaft. - Köln war dann von Engländern besetzt, die sich mit Konrad Adenauer nicht mehr so gut verstanden haben wie nach 1918. Am "Militärring" (wo er das Abholzen des Grüngürtels verhinderte, auch das Schleifen der Forts, aus denen Ausflugscafés werden sollten) hatten sie ihre Offizierssiedlung, die später Belgier übernahmen, da gibt's noch die anglikanische Kirche, und den Friedhofsbezirk hier. Englischer Soldatenfriedhof Zollstock
    This Cemetery was constructed by the government of the British Commonwealth..., steht am Eingang in die Mauer gemeißelt, es gibt zwei Wachhäuschen, in einem soll ein Totenbuch mit allen Namen liegen, und dasselbe in deutscher Sprache an dem anderen Häuschen: Englischer Soldatenfriedhof ZollstockHier ruhen Soldaten des Britischen Reiches, welche während des Weltkrieges 1914-1918 in Deutschland starben. Die durch ihre Gräber geweihte Erde ist als ewiger Besitz durch Vertrag mit dem deutschen Volke und der Stadt Köln gesichert auf daß ihre Ueberreste fuer immer in Ehren gehalten werden. 1925 wurde der Friedhof errichtet, unter OB Adenauer; er ist natürlich allen Besuchern immer geöffnet (ob auch am Bankfeiertag, habe ich nicht gefragt), und vor den spitzigen Wachhäuschen stehen leider keine rot uniformierten Gardisten mit Pelzmützen, was ich bei Trooping the Colours immer so pittoresk finde. 2700 tote Briten aus dem Ersten Weltkrieg liegen hier, auf ihren Steinen sind die Abzeichen ihrer Regimenter: gekrönte Brezel etc., in deren Mitte ein gigantisches Schwert-Kreuz, weitere hinten liegen Besatzungssoldaten,  BFBS-Mitarbeiter, Angehörigen etc., die nach dem Zweiten Weltkrieg in Köln gestorben sind. Den italienischen Friedhof habe ich nicht gesehen, der entstand zwischen 1925 und 1928, es gab ähnliche Enklaven für die italienischen Weltkriegstoten in München, Berlin und Breslau.

    Am Schluss kamen wir wieder beim Eingang an und bewunderten noch den nagelneuen Grabkerzenautomat ("mit Zündholz"), bei dem man sich hier mit dem Nötigsten versorgen kann, falls man Kleingeld hat & nicht in die überwältigende Blumenladenmeile gehen will, die im weiten Umkreis vor der Mauer Kränze, Dekor und Zierpflanzen offeriert. Unten an der Automatensäule eine Entsorgungsklappe für abgebrannte Lichter ("leere Mehrwegbecher hier einwerfen!"). Außerdem stehen hier ein paar besonders sorgfältig bepflanzte Gräber ohne Namen, das ist die sog. "Mustergrabanlage", eine ständige Ausstellung des Friedhofsgärtnerverbandes mit Vorschlägen, was man denn so machen lassen kann, darf und sollte, wenn es so weit ist... "Flächenbepflanzung: Euonymus fortunei 'Emerald Gaiety' oder 'Minima', Rahmenbepflanzung: "Pinus mugo 'Mops', Lichtanspruch: sonnig", und nicht vergessen: "Bis zur endgültigen dauerhaften Grabanlage wird der Hügel bepflanzt, damit sich das Erdreich nach einer Bestattung setzen kann." Darauf muss ich mich auch erstmal setzen. Das Pförtnerhäuschen, das wir passierten, um noch einen Kakao im Café Metternich zu trinken (hier gebe ich Salonabende, wenn die Besitzerin mitspielt), war übrigens schon mal abgerissen und wurde nach Bürgerprotesten mit einer Spende wieder aufgebaut.


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